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       # taz.de -- Lehren aus den Gaza-Protesten: Zaghafte Strukturen einer radikalen Demokratie
       
       > Die Gaza-Proteste zu kritisieren ist leicht. Deutschland hat die Bewegung
       > bekommen, die es verdient: Die einen schreien, weil die anderen
       > schweigen.
       
   IMG Bild: Eine propalästinensische Demonstration unter dem Motto „Stoppt den Genozid in Gaza“ in Berlin am 2. Dezember 2023
       
       Lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Am Freitag wird ein ansehnliches
       Bündnis zivilgesellschaftlicher, humanitärer und humanistischer Kräfte vor
       dem Kanzleramt Forderungen vertreten, die so selbstverständlich wie
       unerhört sind: „Menschenleben dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen
       werden. Palästinensisches Leben ist genauso kostbar wie israelisches
       Leben.“ Und deshalb bitte keine [1][doppelten Standards] bei den
       Menschenrechten und im Völkerrecht.
       
       Warum hat es fast ein Jahr gedauert, bis solche schlichten Grundsätze
       universellen Zusammenlebens mit Selbstbewusstsein auf einen zentralen Platz
       der Republik getragen werden? Weil wir ein trauriges, feiges, verlogenes
       Land geworden sind. Weil in diesem Jahr viele Hoffnungen zertreten wurden,
       nicht zuletzt die Hoffnung auf eine gelingende Einwanderungsgesellschaft.
       Weil wir eine defekte Demokratie sind, von oben wie von unten.
       
       Hier also meine persönliche kleine Bilanz eines Jahres der zerronnenen
       Gewissheiten. Nachdem die deutsche Politik mit dem Völkermord an Juden und
       Jüdinnen die Unterstützung einer Kriegsführung begründen konnte, die andere
       Teile der Welt als Genozid betrachten, ist auf wenig mehr Verlass.
       
       ## Die Staatsräson ist komfortabel
       
       Die humanistische Substanz der offiziellen Erinnerungskultur hat sich als
       erschreckend dünn erwiesen. Und eine repressiv auftretende Staatsräson, der
       aus Mangel an Zivilcourage nur wenige widersprechen mögen, hat noch eine
       weitere Annahme erschüttert: nämlich den Glauben, das Gedenken an die
       NS-Verbrechen werde helfen, künftigem Faschismus und Autoritarismus
       vorzubeugen.
       
       Noch können wir das Ausmaß der moralischen und intellektuellen Krise, die
       mit all dem einhergeht, kaum begreifen. Aus globaler Sicht umreißt der
       Historiker Enzo Traverso in seinem neuen Buch „Gaza im Auge der Geschichte“
       diese Krise so: Wie die Erinnerung an den Holocaust im Gazakrieg
       missbraucht worden sei, „kann diese Erinnerung nur beleidigen und
       diskreditieren“. Und er befürchtet: „Das Gedenken an den Holocaust wird
       seine erzieherische Kraft verlieren.“ Zahlreiche Menschen, die weltweit in
       der Holocaust-Education arbeiten, treibt eine ähnliche Sorge um, auch wenn
       sie zurückhaltender formulieren als Traverso. Warum wird diese Krise in
       Deutschland so wenig gespürt?
       
       Weil das Denksystem der Staatsräson nicht nur autoritär ist, sondern auch
       überaus komfortabel, eine Art nationales Sofa der gebildeten Schichten. Es
       erlaubt eine Trägheit der Herzen und des Verstandes, es erlaubt, sich
       moralisch überlegen zu fühlen, während man brennenden Fragen von
       Menschlichkeit aus dem Weg geht. So ist eine Mentalität vorsätzlicher
       Ignoranz entstanden: Als gäbe es ein spezielles deutsches Recht, nicht zu
       wissen – nicht zu wissen, was genau in Israel, Gaza oder im Westjordanland
       vor sich geht oder wie gefährlich Israels radikale Rechte tatsächlich ist.
       Weil sich Deutsche in Watte packen, sich schützen müssen vor diesem Wissen.
       Sich bloß nicht berühren lassen, nicht herausfordern lassen, weder
       emotional noch intellektuell. Zu zweifeln, wäre nicht mehr komfortabel.
       
       ## An die Vulnerablen delegiert
       
       Dies alles sind keine Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Sie zeigen
       eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, ein erwachsenes, reifes
       Gespräch mit sich selbst und der Welt zu führen. Wir sehen ein Land, das so
       lächerlich wie traurig Jagd auf Pappkartons mit [2][„From the River to the
       Sea“-Slogans] macht, anstatt eine kluge Diplomatie zu entwerfen gegenüber
       der politisch längst verflochtenen Realität zwischen Fluss und Meer.
       
       Die [3][Gaza-Proteste auf den Straßen] sind mit allem, was an ihnen zu
       kritisieren ist, wie ein Spiegelbild der Mentalität des Mainstreams.
       Zynisch formuliert: Deutschland hat genau die Bewegung bekommen, die es
       verdient. Darin sind viele migrantisch, viele ohne deutschen Pass, manche
       staatenlos, die meisten sehr jung und viele mit prekären Jobs.
       
       An diese sozial und juristisch vulnerable Minderheit haben die
       Kartoffel-Deutschen delegiert, was ihnen selbst hin und wieder gut zu
       Gesicht stehen würde: einen Einspruch wagen gegen das nicht enden wollende
       Töten von Zivilisten.
       
       Von Beginn der Proteste an wurden viele Demonstranten wie Kriminelle auf
       Freigang behandelt, nun vermummen sich viele von ihnen und liefern so die
       erwünschten Bilder: Unsere Banlieue, da traut sich nur Polizei in
       Kampfmontur hinein.
       
       Ach, wie leicht ist es, sich zu überheben – über eine Bewegung, die
       schreit, auch in Misstönen, weil all jene schweigen, die gefahrlos sprechen
       könnten, mit dem guten Job, der richtigen Hautfarbe, dem sicheren Pass. Und
       weil sich nicht einmal eine Hand ausstreckt, um zu signalisieren: Ich lehne
       eure Parolen ab, aber ich verstehe euren Schmerz.
       
       Die Bewegung auf der Straße ist mit steigenden Todeszahlen in Gaza (und nun
       im Libanon) [4][kaum größer geworden], nur verzweifelter. Gewachsen ist
       indes etwas anderes: eine Szene derer, die der Einschränkung der
       Meinungsfreiheit, der deutschen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit mit
       anderen Mitteln widersprechen, als Künstlerinnen, Anwälte oder
       Wissenschaftler. Die Aktivsten unter ihnen sind, neben Palästinastämmigen,
       nicht zufällig oft Juden/Jüdinnen.
       
       So ist etwas im Entstehen, das seinerseits ein Produkt dieses grässlichen
       Jahres ist: Gegen eine missbräuchliche Geschichtspolitik von oben entstehen
       zaghafte Strukturen einer radikalen Demokratie und universalistischen
       Erinnerungskultur von unten. Ich hoffe, dass ich mich damit nicht täusche.
       
       Und als Nachtrag wäre vielleicht noch dies zu bedenken: Ein Staat, der so
       außer Rand und Band gegen eine Minderheit vorgeht, die keinerlei Lobby im
       öffentlichen Raum hat, ist potenziell gefährlich für alle.
       
       16 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
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