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       # taz.de -- Verkehrswende in Berlin: Ein Hauch von Neapel
       
       > Die Petersburger Straße soll schöner und sicherer werden. Den Umbau zahlt
       > das Land Berlin, der Bezirk freut sich über einen Beitrag zur
       > Verkehrswende.
       
   IMG Bild: „Es ist eine Frage der Zeit, bis hier Ratten auftauchen“, sagt ein Hausmeister aus der Nachbarschaft
       
       Berlin taz | Mühsam schiebt ein Mann in Arbeitshose und Schutzschuhen eine
       große Wertstofftonne über ruckeliges Pflaster. Der Deckel lässt sich nicht
       mehr schließen, er liegt auf Müllsäcken auf. Die letzte Abholung ist
       ausgefallen. Immer wieder bleibt die Tonne am Bauzaun hängen, der sich an
       der Petersburger Straße entlangzieht und einen schmalen Gehweg vom bereits
       aufgerissenen Bürgersteig trennt.
       
       Die verbleibenden Meter bis zur nächsten Nebenstraße zieht er die Tonne
       hinter sich her, dann stellt er sie neben anderen Behältern ab, aus denen
       der Müll quillt. „Am Telefon hieß es, morgen wird abgeholt“, sagt er. Als
       Hausmeister betreut er eine Liegenschaft in der Petersburger und eine
       weitere in einer der angrenzenden Straßen, beide rund 200 Meter entfernt.
       „Wir werden sehen.“
       
       Seit rund einem Monat ist die Petersburger Straße in Friedrichshain
       zwischen Bersarinplatz und Landsberger Allee eine Großbaustelle. Eine
       Fahrtrichtung ist komplett gesperrt, der Verkehr wird auf die Gegenrichtung
       umgeleitet. In drei Bauabschnitten soll die Verkehrstangente [1][auf beiden
       Seiten sichere Fahrradspuren erhalten], neue Bäume sollen gepflanzt und die
       Parkplätze reduziert werden. Das Senatsprojekt kostet rund 15 Millionen
       Euro, für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist es ein wichtiger
       Bestandteil der Mobilitätswende. Die Fertigstellung ist für 2027 geplant.
       
       Bei Baumaßnahmen dieser Größenordnung macht etwas voreilig der Begriff von
       Chaos die Runde. Die einen beklagen, [2][ihr Auto nun weiter von der
       eigenen Haustür entfernt parken zu müssen], andere sind aufrichtig besorgt
       um ihre Geschäfte. Tatsächlich müssen sich momentan alle
       Verkehrsteilnehmer:innen etwas labyrinthartig fortbewegen, ob zu Fuß,
       auf dem Rad oder im Auto. Für Menschen, die körperlich eingeschränkt sind,
       ist die Überquerung der aufgerissenen Petersburger Straße kaum möglich.
       
       Wollen wir alle eine lebenswertere Stadt und mehr Verkehrssicherheit haben,
       entstehen auf dem Weg dorthin Hürden, die sich kaum vermeiden lassen.
       Allerdings gibt es auch solche, denen sich mit etwas Weitsicht vorbeugen
       ließe. Aber Berlin und Großprojekte, das ist bekanntlich so eine Sache.
       
       ## Unerreichbare Sammelstellen
       
       Der Flächendruck im Viertel ist hoch. Zugeparkte Ecken und
       Halteverbotszonen in den Nebenstraßen sind seit Jahren die Regel und sowohl
       Polizei als auch Ordnungsamt bekannt. Parkraumbewirtschaftung gibt es hier
       nicht, weshalb hier auch Ortsfremde gerne ihre Anhänger oder Wohnwagen
       abstellen, oft monatelang. Selbst ohne benachbarte Großbaustelle sind
       Müllabfuhren wegen Platzmangels schon unverrichteter Dinge abgefahren.
       
       Die Bauarbeiten haben die Lage nicht eben entspannt, mehr als 500
       Parkplätze fallen während der Bauzeit weg. Die Fahrzeuge drängen nun in die
       schon vorher vollen Nebenstraßen. Die Rechnung ist einfach: Wenn wenig Raum
       ein Problem ist, spitzen mehr Autos auf dem gleichen Raum die Lage zu.
       Maßnahmen, um den Druck abzumildern und die Zuwegung der Straßen
       sicherzustellen, wurden nicht getroffen.
       
       Nun kann eine Debatte über Müll in Berlin schnell spießig wirken, gerade in
       Friedrichshain, wo es zum guten Ton gehört, vergilbte Matratzen auf der
       Straße abzulegen. Andererseits zählt die Müllentsorgung zur Daseinsvorsorge
       und sollte eine gewisse Priorität genießen. Auf die Frage, ob während der
       Bauzeit Abstimmungen zwischen Senat, Bezirk, Polizei und Müllabfuhren
       erfolgen, antwortet Michael Herden, Sprecher der Senatsverwaltung für
       Verkehr, mit Nachdruck: „Ja, natürlich, sehr eng und intensiv.“ Auch
       Informationen an die Müllabfuhrunternehmen seien vorab erfolgt.
       
       Die BSR bestätigt das auf Anfrage. Für die Liegenschaften auf der
       Petersburger Straße seien Sammelstellen am Ende der Nebenstraßen
       eingerichtet worden. Beim Entsorger Alba, der im Viertel Wertstoff- und
       Papiertonnen abholt, klingt das anders: „Zu den Baumaßnahmen liegen uns
       keine Informationen seitens der Senatsverwaltung oder des Bezirksamts vor“,
       sagt Unternehmenssprecher Matthias Hochstätter. Auch von der Baufirma sei
       keine Koordination zur Abfallentsorgung erfolgt.
       
       Um an die Sammelstellen zu kommen, müssen die Fahrzeuge die Nebenstraßen
       sowieso erst mal erreichen. Weil das momentan Glückssache ist, warten in
       den angrenzenden Straßen verwaiste Mülltonnen auf ihre Leerung: auf den
       Gehwegen, zwischen Autos, auf der Fahrbahn, mitten im Fußgängerüberweg
       einer Ampel. „Es ist eine Frage der Zeit, bis hier Ratten auftauchen“, sagt
       der Hausmeister aus der Nachbarschaft. Wer will, kann sich beim Anblick an
       Neapel erinnert fühlen, wo sich der Müll in den 2010er Jahren mehrfach
       wochenlang auf den Straßen türmte.
       
       ## Sackgasse ohne Schild
       
       Den Verkehrsfluss erschweren weitere Baustellen. Hier wird eine Fassade
       energetisch saniert, dort ein Dach. In der parallel zur Petersburger
       verlaufenden Ebertystraße entsteht auf einem Eckgrundstück ein Neubau. Die
       Fahrbahn ist in eine Richtung gesperrt, die Durchfahrt verboten. Bis vor
       Kurzem ließ sich die Stelle noch durch eine Nebenstraße umfahren. Die ist
       jetzt gesperrt, aber niemand hat ein Sackgassenschild aufgestellt.
       
       Also fahren Autos ein, bis sie nicht weiterkommen und an unübersichtlichen
       Stellen und auf engem Raum drehen müssen – Fahrrad- und entgegenkommendem
       Fließverkehr zum Trotz. Manche biegen in die Nebenstraße ab, die keine
       Wendemöglichkeit bietet, weshalb sie rückwärts wieder rausfahren. Andere
       ignorieren das Einbahnstraßenschild und fahren einfach durch. Einen Unfall
       gab es bereits, ein Transporter stieß frontal gegen ein SUV. Keine
       Baustelle zwingt Verkehrsteilnehmer:innen, Regeln zu missachten. Es schadet
       aber auch nicht, die Gefahren durch angemessene Beschilderung zu
       reduzieren.
       
       Die Zuständigkeiten über das Berliner Straßennetz verteilen sich auf das
       Land und die Bezirke. [3][Für die Petersburger Straße als Teil der
       Bundesstraße 96a ist das Land Berlin zuständig]. Somit fällt die Sanierung
       in den Verantwortungsbereich der Senatsverwaltung für Verkehr. Was in den
       Nebenstraßen passiert, ist eigentlich Bezirkssache – abgesehen von
       Maßnahmen, die unmittelbar mit der Baustelle zusammenhängen.
       
       Das Land Berlin als Bauherr hat die bauausführende Firma mit der
       „Einrichtung der Verkehrsführung während der Bauzeit“ betraut, sagt
       Sprecher Michael Herden. „Die Organisation vor Ort ist vertragliche
       Leistung des Auftragnehmers für die Bauhauptleistungen zur Errichtung der
       neuen Verkehrsanlage.“ Zum Umfang der Leistungen gehöre auch die tägliche
       Prüfung des reibungslosen Verkehrsmanagements. Mit anderen Worten: Wenn die
       Baufirma keine Probleme meldet, gibt es auch keine.
       
       ## Keine Meldung, keine Probleme
       
       In Gesprächen, aus denen nicht zitiert werden kann, wird deutlich, dass
       alle beteiligten Akteure um die Probleme wissen. Nur so wirklich zuständig
       will niemand sein. Der Bezirk lässt die Frage nach der Kommunikation zum
       Senat unbeantwortet und verweist an die Senatsverwaltung, die wiederum die
       Kontrolle der Baustelleneinrichtung an das Unternehmen vergeben hat, das
       auch für deren Umsetzung verantwortlich war. Ein Behörden-Pingpong, das
       erahnen lässt, warum der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) die
       Verwaltungsreform zur Mutter aller Vorhaben erkoren hat.
       
       Ob diese Reform die aktuellen Probleme verhindert hätte, steht auf einem
       anderen Blatt. Denn offenbar hakt es nicht nur in der Kommunikation
       zwischen Senat und Bezirk, sondern auch innerhalb des Bezirksamts. Dort
       heißt es auf Anfrage, das Ordnungsamt sei über den Beginn der Baumaßnahmen
       und den daraus resultierenden Kontrollbedarf informiert worden.
       Mitarbeitende des Ordnungsamts berichten dagegen, sie hätten vom Beginn der
       Bauarbeiten erst aus der Presse erfahren.
       
       Anweisungen, die Gegend verstärkt zu kontrollieren, um Zuwegung und
       Verkehrssicherheit sicherzustellen, gab es laut Bezirksamt trotz des
       identifizierten Kontrollbedarfs nicht. Womöglich eine Kapitulation vor der
       Realität, denn es fehlt an Personal. Im Ordnungsamt ist von einer extrem
       dünnen Personaldecke die Rede. Zuletzt hätten im Allgemeinen Ordnungsdienst
       häufig nur zwei oder drei Teams zur Verfügung gestanden, also maximal sechs
       Leute – wohlgemerkt für ganz Friedrichshain-Kreuzberg, den
       dichtestbesiedelten Bezirk der Stadt.
       
       Dabei wäre es ganz einfach, sich abseits der formalen Zuständigkeiten ein
       Bild von der Lage zu machen. Ein Teil des Bezirksamts – darunter das Büro
       der Verkehrsstadträtin – liegt direkt am Bersarinplatz, wo die Baustelle
       beginnt. Und wenn gar nichts mehr hilft, bleibt immer noch das Vorbild
       Neapel. Dort hatten Anwohner:innen einst die Müllberge aus Protest in
       Brand gesteckt. Zumindest das Problem mit der Abholung hatte sich damit
       erledigt.
       
       17 Oct 2024
       
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