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       # taz.de -- Grüne Jugend in Ostdeutschland: Tiefes Dilemma
       
       > Nach dem Rücktritt des Vorstands der Grünen Jugend hadert unser Autor. Er
       > teilt die Kritik – doch im ländlichen Osten kann er nicht einfach gehen.
       
   IMG Bild: Teilnehmer:innen stimmen beim Bundeskongress der Grünen Jugend für einen Tagesordnungspunkt ab, im Oktober 2024
       
       Als ich Ende 2018, im Alter von 16 Jahren, in meiner Heimatstadt Zwickau
       den Grünen beitrete und eine Ortsgruppe der Grünen Jugend initiiere, sehe
       ich das als die einzige Option: Die Linkspartei war vor Ort noch immer von
       Alt-SEDlern geprägt, und es gab kaum Möglichkeiten für Jugendbeteiligung –
       schon gar nicht in Zwickau. Mit dem Beginn der Fridays-for-Future-Bewegung
       hatten Leute in meinem Alter Hoffnung auf frischen Wind in den Parlamenten
       – auch durch die Grünen.
       
       2024 haben sich die Umstände geändert: Links zu sein ist im ländlichen
       Ostdeutschland das Gegenteil von cool, bei den Grünen oder in der Grünen
       Jugend aktiv zu sein schon gar nicht. Ein Öko-, Lastenrad-, Woke-Image
       wirkt desaströs. Eine linke, demokratische, gut strukturierte und ja, auch
       coole, Jugendorganisation – die keine Parteijugend ist – wäre demnach
       wichtig, vor allem um auf dem Land eine Gegenkultur zu den Faschos
       aufzubauen. Der Rücktritt des Grüne-Jugend-Vorstands und die Ankündigung
       einer neuen Jugendorganisation könnten dafür den Weg ebnen. Ich habe mich
       zunächst gefreut.
       
       Allerdings sollte nicht unterschätzt werden, welche Rolle viele Ortsgruppen
       der Grünen Jugend spielen: Sie sind ein wichtiger Ankerpunkt für queere,
       diskriminierte und von Faschos bedrohte Jugendliche. So ging’s mir damals
       auch. Für sie alle wirkt der angekündigte und scheinbar nicht wirklich gut
       abgesprochene Rücktritt des Bundesvorstands der Parteijugend wie ein Schlag
       ins Gesicht.
       
       ## Im ländlichen Osten eine Mammutaufgabe
       
       Luise Schmiedichen, Politische Geschäftsführung der Grünen Jugend Sachsen,
       schreibt: „Ich bin traurig. Die Grüne Jugend ist ein Ort, in dem junge
       Menschen in Ostdeutschland einen von wenigen Orten der politischen
       Selbstwirksamkeit finden. Das Vorgehen des Bundesvorstands, (…) macht mich
       wütend, und diese Wut wollte ich nicht gegenüber Menschen spüren, mit denen
       ich teilweise jahrelang politisch gearbeitet habe.“
       
       Da wird seit Jahren darum gerungen, progressiven Kids in Zwickau, Görlitz
       oder Chemnitz mit der Grünen Jugend eine politische Heimat zu bauen, und
       dann ist diese irgendwelchen Leuten an der Spitze nicht links genug. Neue
       Gruppen gründen? Für am Limit lebende Menschen im ländlichen Osten ist das
       eine Mammutaufgabe.
       
       Auf der Instagram-Seite der sich neu formierenden Jugendbewegung
       „zeitfuerwasneues2024“, scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen: Im
       Saarland verlassen zugunsten der neuen Organisierung zwei, [1][in Berlin
       drei Menschen] den Landesvorstand der Grünen Jugend, in Schleswig-Holstein
       ein großer Teil und in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern
       wechseln die gesamten Landesvorstände geschlossen zur Neugründung.
       
       In Ostdeutschland treten, zumindest bisher, nur vier Vorstandsmitglieder
       aus dem brandenburgischen Verband aus. Das gibt zu denken und liegt sicher
       auch an der erwähnten zugespitzten politischen Situation im ländlichen
       Osten – dabei wäre es gerade jetzt so wichtig in Ost- wie Westdeutschland
       an einem gemeinsamen Strang zu ziehen.
       
       Fragen werfen auch die kursierenden Statements „gegen Aufrüstung“ der neuen
       Bewegung auf. Was genau ist mit dem grundsätzlich berechtigten Anliegen
       gemeint? In den sozialen Netzwerken geht ein Beitrag Ukraine-solidarischer
       Aktivistinnen viral, in dem es heißt: „Neben eurer Forderung nach mehr
       sozialer Gerechtigkeit und dem Aufbau einer neuen linken Partei stellt ihr
       euch auch ‚gegen Aufrüstung‘. Eine Präzision dieser Aussage gab es bisher
       nicht. Wir, Aktivistinnen, die sich seit Jahren für die Ukraine
       starkmachen, finden das wahnsinnig gefährlich.“ In Zeiten von
       heimtückisch-populistischen Neugründungen à la BSW sind das berechtigte
       Sorgen.
       
       ## Kein Aushängeschild für den Rechtsruck
       
       In den meisten Themenfeldern teile ich aber die Beweggründe zum Abschluss
       mit den Grünen und deren Jugend. Zur Wahrheit gehört: Auch ich hadere schon
       lange mit meiner Parteimitgliedschaft, eigentlich seit dem Eintritt. Die
       Geas-Asylrechtsverschärfungen, das Abbaggern von Lützerath und die zurzeit
       diskutierten Gesichtserkennungsmaßnahmen oder Bürgergeldverschärfungen der
       Ampelregierung – all das bestärkt mein Hadern und die Wut gegenüber meiner
       Partei.
       
       Mehr denn je habe ich aber auch das Gefühl mich nicht hundertprozentig
       richtig oder falsch entscheiden zu können. Rot-rot-grüne Kreisverbände sind
       im ländlichen Ostdeutschland nicht selten die letzte demokratische Bastion.
       Den Aktiven begegnet Hass und Gewalt, auf Büros gibt es Anschläge. Mit
       einem Austritt, so glaube ich, lasse ich diese Leute im Stich. Den meisten
       geht’s an der Basis um die Verteidigung von Grundrechten und Demokratie vor
       Ort, frei von Bundespolitik.
       
       Mit einem Verbleib kämpfe ich aber vielleicht gegen Windmühlen: Auf die
       drängende soziale Frage, auf das Wegbrechen der Demokratie und die
       menschheitszerstörende Klimakatastrophe scheint die Partei keine glaubhafte
       und konsequente Zukunftserzählung mehr zu haben, schon gar nicht im Osten.
       Und glaube ich wirklich daran, dass der Rücktritt von Omid Nouripour und
       Ricarda Lang einen Kurswechsel herbeiführen könnte? Wohl kaum.
       
       Die Sehnsucht von jungen Linken nach einer flächendeckenden, unbequemen
       Struktur, [2][jenseits überalterter Parteistrukturen] ist groß. Bei mir
       wächst diese Sehnsucht noch, wenn sogar grüne Politiker*innen wie Cem
       Özdemir das Problem toxischer Männlichkeit als rein migrantisch verkaufen.
       So lässt sich die extreme Rechte nicht bekämpfen. Im Gegenteil.
       
       Ich befinde mich in einem tiefen Dilemma: Auf der einen Seite begrüße und
       unterstütze ich den Aufbau einer freien, linken Jugendorganisation, auf der
       anderen Seite sehe ich eine kritische Parteimitgliedschaft ohne Amt nicht
       als Widerspruch zu außerparlamentarischem Engagement. Eines ist klar: Ich
       möchte und werde kein Aushängeschild für den Rechtsruck sein, der auch
       [3][vor der Ampel und den Grünen] keinen Halt macht.
       
       18 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jakob Springfeld
       
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