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       # taz.de -- #Metoo in der deutschen Filmbranche: Im Abhängigkeitsverhältnis
       
       > Sexualisierte Gewalt ist im Kunst-, Kultur- und Medienbereich ein
       > anhaltendes Problem. Der Deutsche Kulturrat hat nun Handlungsempfehlungen
       > vorgelegt.
       
   IMG Bild: Zeichen an die Branche? Schauspielerin Juliane Elting bei der Berlinale
       
       Berlin taz | Ohne Zustimmung wird sie auf Abschlussfesten geküsst, weil sie
       es „durch ihre Kleidung und Art provoziere“. Ihr werden Beleidigungen an
       den Kopf geworfen, wie „Lagerhure“ oder, wenn sie ihre Periode hat,
       „Erdbeersina“. Es sind nur einige der vielen Erfahrungen sexualisierter
       Gewalt und Diskriminierung am Arbeitsplatz, die Sina Blume in den
       vergangenen acht Jahren als Beschäftigte in der Lichtabteilung der Berliner
       Filmbranche ertragen musste.
       
       „[1][Sexuelle Gewalt findet nicht nur in Hollywood statt], sondern auch im
       Hier und Jetzt“, sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) Ende
       September in Berlin. „Was wir brauchen, ist ein Kulturwandel.“ Anlass war
       die Übergabe eines Positionspapiers des Deutschen Kulturrats mit dem Titel
       „Gemeinsame Verantwortung: Für sicheres und respektvolles Arbeiten in
       Kunst, Kultur und Medien“. Es ist das Ergebnis eines einjährigen
       Dialogprozesses, bei dem sich Branchenvertreter*innen seit Juni
       vergangenen Jahres mit der Frage beschäftigten, wie sexualisierter Gewalt
       und Diskriminierung im Kunst-, Kultur- und Medienbereich entgegengetreten
       werden kann.
       
       Eine Berlinerin, die im Filmvertrieb arbeitet, erzählt der taz: „Auf einer
       Arbeitsparty während der Filmfestspiele in Cannes hat mir ein Kunde an die
       Brüste gefasst.“ Eine andere Kollegin habe er versucht, während eines
       Meetings zu küssen. Übergriffe wie diese seien nicht alltäglich. „Aber
       überraschen tut es niemanden, der schon lang in der Branche ist.“
       
       [2][Das Ausmaß des Problems verdeutlichen die Zahlen von Themis, der
       Berliner Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt]. Die 2018
       nach dem MeToo-Skandal gegründete Anlaufstelle bietet kostenlose
       juristische und psychologische Hilfe für Personen aus der Branche an. Im
       Jahr 2023 wurden dort 884 Beratungen durchgeführt – ein Rekord seit der
       Gründung und mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr zuvor. Ob die
       Zunahme auf mehr tatsächliche Vorfälle oder auf das gestiegene Vertrauen in
       die Anlaufstelle zurückzuführen ist, ist unklar.
       
       ## Abhängigkeiten bereiten den Nährboden für Machtmissbrauch
       
       Auch eine Berliner Schauspielerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung
       lesen möchte, wandte sich bereits an Themis, berichtet sie der taz: „Bei
       einem Hauptrollen-Casting für einen bekannten Streamer wurde ich von einer
       der ältesten Produktionsfirmen Deutschlands angewiesen, in möglichst engen
       Kleidern zu erscheinen und viel Haut zu zeigen.“ Dabei habe es sich um ein
       historisches Stück gehandelt. Eine Beraterin der Themis riet ihr,
       Beschwerde einzureichen. Nach einem Gespräch mit Vertrauten aus der Branche
       entschied sie sich jedoch dagegen. Der Grund: „Dann gilt man als schwierig
       und bekommt weniger Jobs. Damit hätte ich meine Karriere riskiert“, so die
       Schauspielerin.
       
       Damit schildert sie eine der branchenspezifischen Herausforderungen des
       Kunst-, Kultur- und Medienbereiches, die auch in dem Positionspapier
       hervorgehoben werden: [3][Abhängigkeitsverhältnisse]. Verschärft werden
       diese durch prekäre Arbeitsverhältnisse. Teilweise konkurrieren viele
       Anwärter*innen um wenige Arbeitsplätze, was zu einem Gefühl der
       Ersetzbarkeit führen kann. Um prekäre Arbeitsverhältnisse und damit den
       Nährboden für Machtmissbrauch zu minimieren, wurden im Juli dieses Jahres
       Honoraruntergrenzen für freischaffende Kreative eingeführt.
       
       Die Oberbeleuchterin Sina Blume befürwortet das: „Eine Honoraruntergrenze
       schützt auch davor, den ohnehin absurden Gender Pay Gap nicht größer werden
       zu lassen.“ Laut der Initiative Pro Quote Film liegt der Gender Pay Gap in
       der Filmbranche bei 35 Prozent und damit deutlich über dem
       Bundesdurchschnitt von 18 Prozent. Am höchsten ist er in der Kameraarbeit,
       hier unterscheiden sich die Honorare um 57 Prozent.
       
       ## Frauen, die sich wehren, werden als kompliziert abgestempelt
       
       „Man gilt in einer Branche, in der überwiegend alte Männer in Positionen
       sind, darüber zu entscheiden, wer gebucht wird, als schwierig und zickig,
       wenn man den Mund aufmacht“, erzählt Blume. Sie sei noch nie so wenig
       gebucht worden, wie nachdem sie in einer WhatsApp-Gruppe auf die Missstände
       in ihrer Abteilung aufmerksam gemacht hatte. „Ich möchte nicht gesagt
       bekommen, ich würde meinen Job nur machen, weil ich mich ‚daran aufgeile,
       nur mit Männern zu arbeiten‘“, schrieb sie. Daraufhin hätten sich Personen
       bei ihr entschuldigt, der Bundesverband Beleuchtung und Kamerabühne habe
       sie unterstützen wollen. „Alle fanden es ganz toll“, erzählt sie, „aber
       anscheinend will keiner jemanden am Set haben, die Missstände benennt.“
       
       Die Branche müsse daher „raus aus der falschen Annahme, dass
       Kultureinrichtungen immun wären gegen sexuelle Belästigung und
       Machtmissbrauch“, sagte Claudia Roth. Bereits im März kursierte unter dem
       Hashtag #genuggeschwiegen ein offener Brief, der Roth aufforderte, gegen
       Machtmissbrauch an Filmsets vorzugehen. Ins Leben gerufen wurde die
       Kampagne von der Schauspielerin Merve Aksoy, die dem Regisseur vorwirft,
       entgegen einer mündlichen Vereinbarung Nacktaufnahmen, zu denen sie
       gedrängt worden sei, im Film „Ararat“ verwendet zu haben. Aksoy erhob
       daraufhin eine Klage gegen die Produktionsfirma und den Regisseur beim
       Berliner Arbeitsgericht. Mittlerweile haben mehr als 22.000 Menschen den
       offenen Brief #genuggeschwiegen unterzeichnet.
       
       In den vergangenen Jahren wurde bereits einiges unternommen. Interne
       Beratungs- und Beschwerdestellen wurden in Betrieben, Verbänden und
       Hochschulen eingerichtet, spartenspezifische Verhaltenskodizes wurden
       erarbeitet und Verbände, Unternehmen und Institutionen führen Fort- und
       Weiterbildungen durch, um sexualisierter Gewalt und Diskriminierung
       vorzubeugen.
       
       ## Forderungen nach besseren Schutzkonzepten
       
       Doch es müssen noch viele Defizite identifiziert und Maßnahmen ergriffen
       werden, heißt es im Positionspapier. „Dazu gehören Selbstverpflichtungen,
       Betriebs- und Dienstvereinbarungen, Schutzkonzepte, sensibilisierende
       Mitarbeitenden-Schulungen, die Evaluation bestehender Regelwerke sowie die
       gründliche Aufarbeitung bei Fällen von Diskriminierung, Machtmissbrauch und
       sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz“, so Roth. Sie wolle prüfen, wie das
       Filmförderungsgesetz, dessen Novelle Anfang des nächsten Jahres in Kraft
       treten soll, besseren Schutz gewährleisten kann.
       
       Im Positionspapier fordern die Branchenvertreter*innen schließlich
       eine größere finanzielle Ausstattung bestehender Beratungsangebote. Zudem
       wird angeregt, dass die Themis den Kreis der Mitglieder*innen öffnet,
       damit sich Betroffene aus allen künstlerischen Sparten an die
       Vertrauensstelle wenden können.Bisher ist die Mitgliedschaft auf Verbände
       und Vereine aus den Sparten Film, Fernsehen, Schauspiel, Theater und Musik
       begrenzt.
       
       Angesichts der angespannten Haushaltslage könnten Budgetkürzungen den
       Ausbau jedoch gefährden. In Berlin waren erst vergangene Woche
       Branchenvertreter*innen von der CDU-geführten Regierung über
       drastische Einsparauflagen im Kulturetat für die Jahre 2025 und 2026
       informiert worden. Der Landesverband Berlin des Deutschen Bühnenvereins
       sprach von „110 bis 150 Millionen Euro oder mehr“, die 2025 eingespart
       werden müssten.
       
       Wie weit die Forderungen des Positionspapiers verwirklicht werden können,
       bleibt abzuwarten. Klar ist: Es braucht nicht nur mehr Ressourcen und
       strengere Gesetze, um sexualisierte Gewalt in der Branche zu bekämpfen. Es
       braucht ein gesellschaftliches Umdenken: „Die Scham muss die Seite
       wechseln“, so Roth.
       
       29 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lilly Schröder
       
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