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       # taz.de -- Refugium-Stipendiat:innen in Brüssel: Zwischen Ambitionen und Zwängen
       
       > Die Refugiums-Stipendiat:innen erkundeten in Brüssel in Gesprächen die
       > Herausforderungen europäischer Diplomatie, von Menschenrechten und
       > Migration.
       
   IMG Bild: Die Stipendiat:innen im Europagebäude, Sitz des Rates der Europäischen Union
       
       [1][taz Panter Stiftung] | Mehr als ein Jahrhundert nach den ersten
       Schritten zur europäischen Integration und fast 40 Jahre nach Jacques
       Delors' Amtsantritt als Präsident der Europäischen Kommission befindet sich
       die EU in stürmischen Gewässern. Rechtspopulistische Kräfte gewinnen im
       EU-Parlament zunehmend an Einfluss, während Ungarn, das "enfant terrible"
       der Union, die Ratspräsidentschaft innehat.
       
       In einer Zeit, in der die Europäische Union vor enormen Herausforderungen
       steht, hatten zwei Jornalist:innen, Mathab Gholizadeh aus dem Iran und
       Karim Assad aus Ägypten, die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen
       des Zentrums europäischer Politik zu werfen. Beide sind die diesjährigen
       Refugiums-Stipendiat:innen der taz Panter Stiftung und von [2][Reporter
       ohne Grenzen]. Das Stipendium hat im Mai angefangen und geht Anfang
       November nach sechs Monaten zu Ende.
       
       ## Sanktionen und Diplomatie
       
       Der Aufenthalt in Brüssel war geprägt von Begegnungen mit Politiker:innnen
       und Menschenrechtsaktivisten:innen. Im Gespräch mit Peter Stano, dem
       EU-Sprecher für Außenpolitik, lag der Fokus auf dem Einfluss der EU auf
       politische Prozesse in [3][Ägypten] und im [4][Iran]. Stano betonte
       Werkzeuge, wie die Verhängung von Sanktionen. Er wies jedoch auch auf klare
       Grenzen hin: „Wir sind keine interventionistische Kraft, die sich in
       Regimewechsel einmischt.“
       
       Laut Stano verlaufen Demokratisierungsprozesse nicht überall identisch, da
       Gesellschaften in verschiedenen Ländern nicht zur Adaption unserer
       Standards, etwa in Bezug auf Frauen- und LGBTQ-Rechte, gezwungen werden
       können. Er betonte die Bedeutung, den sozialen, kulturellen, religiösen und
       lokalen Kontext der Gemeinschaften zu berücksichtigen und die Diskussionen
       mit diesen Ländern pragmatisch anzugehen. Er erklärte, dass die EU selbst
       bei Themen, bei denen sie sehr strikte Ansichten vertritt – wie etwa der
       grundsätzlichen Ablehnung der Todesstrafe – weiterhin für pragmatische
       Beziehungen und einen fortlaufenden Dialog eintritt. So plädierte er zum
       Beispiel für die Fortsetzung der Beziehungen mit [5][Saudi-Arabien]. Das
       Ziel, so Stano, sei es, zumindest „kleine Fortschritte“ zu erzielen.
       
       Diese Perspektive wurde durch ein Gespräch mit Sara Ständer und Mitra
       Bücke-Jahromi, Mitarbeiterinnen der [6][EU-Parlamentarier] Erik Marquardt
       und Hannah Neumann von den Grünen, erweitert. Sie unterstrichen die
       Herausforderungen der EU-Migrations- und Menschenrechtspolitik.
       Bücke-Jahromi betonte, dass in sensiblen und potenziell gefährlichen
       Situationen ein behutsames diplomatisches Vorgehen entscheidend sei, um
       nachhaltige Lösungen zu ermöglichen: "Druck auszuüben, verschließt bei
       bestimmten Themen Türen".
       
       Dennoch nutze Karim Assad die Gelegenheit, um die EU-Ägypten-Kooperation
       kritisch zu hinterfragen. Er wies auf die mangelnde Unterstützung für die
       Zivilgesellschaft hin, trotz der hohen finanziellen Hilfen, die Ägypten im
       Rahmen des [7][Migrationspakets] erhält.
       
       Nur wenige Schritte von den EU-Institutionen entfernt empfing Hussein
       Baoumi, ein Menschenrechtsexperte bei [8][Amnesty International,] die
       Stipendiat:innen. Als Aktivist setzt er sich dafür ein, dass Teile des 7,4
       Milliarden Euro umfassenden Pakets für die strategische Partnerschaft zur
       Förderung von Menschenrechten und Demokratie in Ägypten verwendet werden,
       etwa zur Unterstützung unabhängiger Medien. Dabei arbeitet er eng mit
       Abgeordneten des Europäischen Parlaments zusammen, um Druck auf die
       Kommission auszuüben.
       
       Baoumi wies auf die Problematik von Sanktionen hin. Obwohl diese zunächst
       ein wichtiges politisches Druckmittel darstellen, verlieren sie mit der
       Zeit an Effektivität und greifen nur bei Personen, die konkrete
       Verbindungen nach Europa haben. Deshalb fordert der Menschenrechtsexperte
       weitere strukturelle Maßnahmen. Er plädiert insbesondere für rechtliche
       Ermittlungen gegen Einzelpersonen, um diese vor internationalen Gerichten
       zur Verantwortung zu ziehen.
       
       ## Film über die Taliban-Herrschaft
       
       Zwischen den offiziellen Terminen genossen die Stipendiat:innen Brüssels
       vielfältige kulturelle Angebote. Sie kosteten belgische Waffeln neben der
       berühmten Manneken Pis Statue und erkundeten den Tintin-Shop. Ein weiterer
       Höhepunkt war die Vorführung des Dokumentarfilms „Hollywood Gate“ über die
       [9][Taliban-Herrschaft] in Afghanistan, organisiert von Reporter ohne
       Grenzen. Der Film des Regisseurs Ibrahim Nash'ed begleitet die Taliban nach
       ihrer Machtübernahme im August 2021 und zeigt, wie sie eine zurückgelassene
       US-Militärbasis übernehmen. Dabei fielen der islamistischen Miliz Waffen
       und Ausrüstung im Wert von über 7 Milliarden Euro in die Hände.
       
       Der Brüssel-Besuch bot den Stipendiat:innen sowohl Einblicke in die
       Mechanismen der EU als auch in die Spannungsfelder zwischen diplomatischen
       Ambitionen und realpolitischen Zwängen. In einer Zeit, in der die EU vor
       existenziellen Herausforderungen steht – insbesondere angesichts ihrer
       außenpolitischen Maßnahmen im Kontext der zunehmenden Eskalationen im Nahen
       Osten und in der Ukraine – verdeutlichten diese Begegnungen die
       vielschichtige Komplexität der europäischen Politik.
       
       Anfang November hat der Journalist, ehemaliges Kuratoriumsmitglied der taz
       Panter Stiftung und Mitgründer des Auszeitsstipendiums Andreas Lorenz ein
       Gespräch mit Mahtab und Karim aufgenommen. Sie können das Gespräch hier
       nachhören (oder unter [10][taz.de/stiftung/podcasts]).
       
       1 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /panter-stiftung/vom-wort-zur-tat/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/
   DIR [2] /Reporter-ohne-Grenzen/!t5020459
   DIR [3] /Aegypten/!t5007476
   DIR [4] /Schwerpunkt-Iran/!t5007776
   DIR [5] /Saudi-Arabien/!t5007761
   DIR [6] /Europaeisches-Parlament/!t5014709
   DIR [7] /EU-Migrations-Deal-mit-Aegypten/!5996577
   DIR [8] /Amnesty-International/!t5009192
   DIR [9] /Taliban/!t5010441
   DIR [10] /stiftung/podcasts
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moritz Martin
       
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