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       # taz.de -- Migrationsabkommen mit der Türkei: Ein „ganz normaler Prozess“?
       
       > Sollen abgelehnte Asylbewerber:innen in großem Stil in die Türkei
       > abgeschoben werden? Lars Klingbeil versucht vor Ort, die Wogen zu
       > glätten.
       
   IMG Bild: Lars Klingbeil (SPD) bei seinem Türkei-Besuch am 30. September
       
       Ankara/Istanbul taz | Starten demnächst „Spezialflüge“ mit abgelehnten
       Asylbewerber:innen von Deutschland nach Ankara und Istanbul? Und wenn
       ja, was ist der Preis, den die Türkei für die Abschiebeaktion in großem
       Stil verlangt? Es sind Fragen, die auch dem Co-Vorsitzenden der SPD,
       [1][Lars Klingbeil], auf seiner dreitägigen Reise in die [2][Türkei]
       gestellt werden.
       
       Etwa bei einem Gespräch mit Expertinnen am Mittwochmorgen. Eigentlich geht
       es um außenpolitische Fragen, um die geopolitische Rolle der Türkei. Doch
       am Ende des einstündigen Gesprächs will eine der Teilnehmerinnen doch
       wissen: „Was ist dran an diesem neuen [3][Migrationsabkommen]?“ – „Das ist
       kein großes Ding“, beschwichtigt Klingbeil. Es gehe lediglich um türkische
       Staatsbürger, die kein Bleiberecht in Deutschland hätten und deshalb
       ausreisen müssten. „Ein ganz normaler Prozess.“
       
       Wie zunächst die FAZ berichtete, haben der deutsche Bundeskanzler Olaf
       Scholz und der [4][türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan] eine
       informelle Absprache getroffen. Demnach sollen zunächst 200 abgelehnte
       Asylbewerber in die Türkei abgeschoben werden. Ankara habe sogar angeboten,
       bis zu 500 türkische Menschen pro Woche zurückzunehmen. Das soll bereits
       bei Erdoğans Besuch in Berlin im vergangenen November eingefädelt worden
       sein. Geht es dem Kanzler, der das Thema Abschiebungen zur „Chefsache“
       gemacht hat, um einen neuen Flüchtlingsdeal mit der Türkei?
       
       Klingbeil, der gerade Vertreter:innen der linken und
       sozialdemokratischen Oppositionsparteien in der Türkei besucht, versucht
       die Wogen zu glätten. „Über die Frage der Rückführungen redet die
       Bundesregierung bei ganz vielen Anlässen, genauso wie über die Frage, wie
       Fachkräfte gewonnen werden können. Und natürlich ist es ein Thema zwischen
       Deutschland und der Türkei, wie auch Visaerleichterungen gestaltet werden
       können“, so Klingbeil. Das dürfe aber nicht in einen Topf geworfen werden.
       
       ## Türkei will Visaerleichterungen
       
       Offenbar passiert aber genau das: Im Gegenzug dafür, dass die Türkei
       Landegenehmigungen für Abschiebeflüge erteilt, soll Deutschland
       Visaerleichterungen in Aussicht gestellt haben. Während Deutsche einfach
       mit dem Personalausweis in die Türkei reisen dürfen, ist es für Türkinnen
       und Türken, die ihre Verwandten in Deutschland besuchen oder Geschäfte
       tätigen wollen, oft extrem nerven- und zeitaufwendig, eine
       Einreisegenehmigung zu bekommen.
       
       „Eine Vielzahl von Visa werden abgelehnt und es dauert viel zu lange. Wir
       erhoffen uns, dass die deutsche Seite das Problem löst“, so der Vorsitzende
       der sozialdemokratischen CHP, Özgür Özel, auf einer Pressekonferenz nach
       seinem Gespräch mit dem deutschen Parteikollegen. Sollte es Erleichterungen
       für Jugendliche oder Geschäftsleute geben, begrüße man das.
       
       Özel machte aber auch klar, was man nicht wolle: „Es kann nicht sein, dass
       die Türkei als Auffanglager vor den Toren Europas fungiert.“ Also kein
       neuer EU-Türkei-Deal, wie ihn die damalige Kanzlerin Angela Merkel 2017
       eingefädelt hatte. Die Türkei erhielt 6 Milliarden Euro, um geflohene
       Syrerinnen und Syrer zu versorgen. Bis heute leben bis zu fünf Millionen
       von ihnen in der Türkei.
       
       Allerdings soll es diesmal nicht um Flüchtlinge aus Syrien gehen, wie auch
       Klingbeil deutlich machte. „Das, was jetzt gerade im Raum steht mit den
       Rückführungen, hat erst mal nichts mit dieser Situation zu tun.“
       Stattdessen will Deutschland die bis zu 15.000 türkischen
       Staatsbürger:innen loswerden, die ohne Aufenthaltserlaubnis in
       Deutschland leben, in der Mehrzahl abgelehnte Asylbewerber:innen. Die Zahl
       der türkischen Asylbewerber:innen stieg im vergangenen Jahr sprunghaft
       an, von 24.00 auf 60.000. In diesem Jahr sank die Zahl der Anträge
       allerdings wieder auf das Niveau der Vorjahre.
       
       Der Anstieg der Zahl der Asylsuchenden habe mehrere Ursachen, so Yasemin
       Ahi, die sich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul um die Themen
       Migration und der Demokratie kümmert: die zunehmenden Repressionen gegen
       politisch Aktive und die schlechte wirtschaftliche Situation in der Türkei.
       Die horrende Inflation, die selbst nach offiziellen Angaben bis zu 70
       Prozent erreichte und in Wirklichkeit wohl sogar höher lag, erlaube es
       vielen Eltern nicht mehr, ihre Kinder zu unterstützen. Die suchten dann ihr
       Glück in Deutschland. „Während es für gut ausgebildete Menschen Wege der
       Einwanderung gibt, sehen andere keine andere Möglichkeit, als einen
       Asylantrag zu stellen.“
       
       ## Repression gegen Abgeschobene aus Deutschland?
       
       Ein Teil der Asylsuchenden werden also Menschen sein, die in Deutschland
       eine wirtschaftliche Perspektive suchen. Gleichzeitig dürften viele auch
       aus politischen Gründen der Türkei den Rücken kehren. „Rund um die
       Präsidentschaftswahl hat der türkische Präsident Erdoğan die Repressionen
       gegen Kritiker:innen noch einmal verschärft“, sagt Ahi. Das
       Demonstrationsrecht sei stark eingeschränkt worden, es gebe viele
       Inhaftierungen und Prozesse. „Das spüren vor allem Aktivist:innen, die sich
       für Frauen- und LGBTQI-Rechte einsetzen, aber auch die Kurd:innen, die
       politisch aktiv sind. Der Druck auf sie wurde enorm erhöht.“
       
       Längst nicht alle erhielten Asyl in Deutschland, befürchtet Ahi, gerade
       wenn es noch keine Prozesse gegen sie gäbe. Sie warnt davor, dass von einer
       groß angelegten Rückführungsaktion auch Menschen betroffen sein könnten,
       welche die regierende AKP und die Politik Erdoğans in der Vergangenheit
       kritisiert hätten und am Flughafen direkt verhaftet werden könnten.
       
       Von den zunehmenden Repressionen konnte sich Klingbeil selbst ein Bild
       machen, als er am Dienstag den Vorsitzenden der verbotenen linken
       HDP-Partei besuchte, die sich inzwischen in DEM umbenannt hat. Tuncer
       Bakırhan empfing den deutschen Gast in einem Raum, der dem Warteraum eines
       Bürgeramts ähnelte, und entschuldigte sich für die bescheidenen
       Verhältnisse. Immer wenn man verboten werde, werde auch die gesamte
       Einrichtung beschlagnahmt. Die HDP, die sich für [5][kurdische] Belange
       einsetzt, wurde bereits mehrmals verboten, gewählte
       Bürgermeister:innen sitzen im Gefängnis.
       
       Und während Klingbeil den sozialdemokratischen Bürgermeister von Istanbul,
       Ekrem İmamoğlu trifft, verhandelt ein Zivilgericht gerade wieder über eine
       Klage gegen ihn. İmamoğlu ist bereits wegen Beleidigung der Wahlkommission
       verurteilt, ein astreiner politischer Prozess.
       
       Es sind Bedenken, die Klingbeil direkt weitergeben kann, wenn er am
       Mittwochabend wieder in Berlin landet. In zwei Wochen soll Scholz selbst in
       die Türkei reisen, um sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayip
       Erdoğan treffen. Neben außenpolitischen Fragen, der Lage im Nahen Osten und
       dem Krieg in der Ukraine wird es wohl auch um das Thema Migration gehen.
       
       Transparenzhinweis: Ekrem İmamoğlu wurde bereits verurteilt, wir haben die
       Textstelle korrigiert.
       
       2 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /SPD-Vorsitzender-zu-Laender-Asylpolitik/!5989509
   DIR [2] /Angriff-auf-US-Soldaten-in-der-Tuerkei/!6033779
   DIR [3] /Migrationsabkommen-mit-Usbekistan/!6034058
   DIR [4] /Spannungen-zwischen-Tuerkei-und-Israel/!6034566
   DIR [5] /Mord-an-Achtjaehriger-in-der-Tuerkei/!6036262
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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