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       # taz.de -- Roman über Natives im heutigen Amerika: Tiefe Störungen in der Kommunikation
       
       > Tommy Orange erzählt in „Verlorene Sterne“ vom Alltag der Natives im
       > heutigen Amerika. Traumatisch schwingt die Vergangenheit in der Gegenwart
       > mit.
       
   IMG Bild: Indigene Motive in neuer Kleidung bei einem Powwow der Native Americans
       
       Der Schmerz wird weitergegeben und weitergegeben, von Generation zu
       Generation. Bis hinein in die Gegenwart zu Orvil Red Feather, einer
       Hauptfigur des Romans „Verlorene Sterne“ von Tommy Orange.
       
       Orvil Red Feather ist US-Amerikaner, der von den indigenen Cheyenne
       abstammt, und er ist Opfer einer Schießerei bei einem Powwow, einem
       indigenen Kulturfest, in Oakland geworden. Seither hat er Kugelsplitter im
       Körper, wird schmerzmittelabhängig, geht im Zustand des ständigen
       Strauchelns durchs Leben.
       
       Seine Mutter war heroinabhängig, er hat sie durch Suizid verloren, wächst
       mit seiner Großtante und seiner Großmutter sowie seinen beiden Brüdern Lony
       and Loother auf. Orvil ist in eine beschädigte Community hineingeboren
       worden, ihm bleiben die Sucht – und seine Gitarre, „deren Musik ihm
       allmählich wie eine Sprache erschien, die ihn womöglich retten konnte, wenn
       er sie lernte“.
       
       Orvils Suche nach Rettung und Halt ist eines von vielen Themen in dem
       hochkomplexem und toll verwebtem Roman „Verlorene Sterne“ von Tommy Orange.
       Der Autor Tommy Orange, 42, in Oakland geboren, ist selbst Mitglied der
       Cheyenne und Arapaho Tribes. Sein Vater ist Cheyenne, durch ihn ist Orange
       früh mit indigenen Zeremonien in Berührung gekommen. Seine Mutter ist
       Weiße, war den Indigenen zunächst zugetan, wurde später evangelikale
       Christin und wandte sich von indigener Kultur ab.
       
       ## Ausgezeichnet für das beste Erstlingswerk
       
       Orange hat schon in seinem Debütroman „Dort dort“ (2019) nah, dicht und
       poetisch v[1][om indigenen Leben im heutigen Amerika] und der immensen
       Suchtproblematik in den Communitys geschrieben. In Deutschland ist der
       Autor noch nicht so bekannt, auch wenn sein Debüt breit rezipiert wurde. In
       den USA erhielt er für „There There“ unter anderem den PEN/Hemingway Award
       für das beste Erstlingswerk, der Nachfolger steht nun auf der Longlist des
       Booker Prize.
       
       „Verlorene Sterne“ ist eine Fortsetzung von „Dort dort“, das mit jener
       Schießerei beim Powwow-Festival endete. Orange verfolgt die Geschichten
       seiner Protagonisten weiter – zugleich, und das ist einer der Kniffe dieses
       Romans, geht der Nachfolgeroman zunächst viele Generationen zurück bis zum
       Sand-Creek-Massaker, das 1864 an den Cheyenne und Arapaho im einstigen
       Colorado-Territorium begangen wurde.
       
       ## Die Bisonkriege – Vernichtung der Lebensgrundlage
       
       Der Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater von Orvil, Jude Star, hat es als Junge überlebt,
       er ist eine der Hauptfiguren im ersten Teil und reflektiert über die Jagd
       der Kolonisten und deren Nachfolgern auf „Indianer“ und auf Bisons, die
       auch deshalb getötet wurden, um den Indigenen die Lebensgrundlage zu
       entziehen: „Auf der Zugfahrt zurück nach Oklahoma sah ich meilenweit und
       mannshoch Bisonkadaver aufgeschichtet. Die Bisonkriege, nannten sie es. Ich
       hatte gehört, warum sie es taten. Jeder tote Bison bedeute einen Indianer
       weniger.“
       
       Orange geht historisch auch zurück zur Etablierung der Residential Schools,
       die den Indigenen ihr Indigensein austreiben sollten. Ein bedeutender
       Vordenker der Umerziehungsschulen war der Armeegeneral Richard Henry Pratt,
       dessen Politik der Assimilation („Kill the Indian, save the man“ war Pratts
       Maßgabe) der Autor hier aufgreift.
       
       Der Hauptteil von „Verlorene Sterne“ aber spielt in der Gegenwart, man
       liest den Roman deshalb vor allem als Werk über erbliche Traumata und
       epigenetische Effekte. Die „Last der Geschichte“, wie sie an einer Stelle
       genannt wird, schleppen Orvil und Loother, schleppt auch der junge Sean
       Price mit sich herum, der ebenfalls Native ist. Mit ihm freundet Orvil sich
       zunächst online und dann im realen Leben an. Für beide sind das
       Gitarrespielen und die Popkultur Ausweg aus ihrer Einsamkeit, dort finden
       sie den Ausdruck für ihr Anderssein.
       
       ## Pop als Ventil
       
       Sean ist durch einen Unfall ebenso gehandicapt wie Orvil, er identifiziert
       sich weder als Mann noch als Frau, fühlt sich „sowohl zu Jungs als auch zu
       Mädchen hingezogen“, auch deshalb ist Pop für ihn ein Ventil: „Er war in
       seinem Zimmer, hatte ‚Your Best American Girl‘ von Mitski auf den
       Kopfhörern laufen und drehte sich beim Tanzen im Kreis. Die verzerrte
       Gitarre und die offene Wut in der Stimme klangen so schön und hässlich und
       gut zugleich, aber auch empört über etwas, wofür er sich sein ganzes Leben
       lang immer wieder geschämt hatte.“
       
       Ganz ähnlich ist es bei Orvil, er will von der Sucht loskommen, die Gitarre
       hilft ihm dabei, später dann das Laufen, das ihn auch durch die
       Pandemiezeit bringt („Nur das Laufen schaffte, was ich brauchte, um clean
       zu bleiben. Also lief ich. Jeden Tag.“).
       
       Es sind sehr viele Themen, die in „Verlorene Sterne“ aufgeworfen werden,
       das mag hier schon im kurzen Anreißen der Handlung deutlich werden.
       Indigene Kultur, Rassismus, Traumata, Sucht und die Drogenepidemie in den
       USA, Corona, Identitätspolitik, Gender Trouble, Freundschaft, Einsamkeit.
       Von all dem handelt der Roman, und an mancher Stelle kann einem das als
       Leser überladen erscheinen. Da wird dann vielleicht etwas zu exponiert über
       die identitätspolitische Frage der Repräsentanz diskutiert und wer für wen
       sprechen darf.
       
       ## Erfahrung der Auslöschung
       
       Zugleich aber gelingt Orange vor allem im zweiten Teil eine soghafte
       Erzählung (wie in „Dort dort“ auch schon). Er findet treffende Worte für
       das Othering, das seine Figuren erfahren, und er leitet eben historisch
       her, dass die Kommunikation zwischen weißen und indigenen US-Amerikanern
       gestört ist, gestört sein muss, weil sie nicht die gleiche Sprache
       sprechen: „[…] es wäre schön, wenn der Rest des Landes verstünde, dass wir
       nicht alle eine intakte Kultur und Sprache besitzen, weil unserem Volk
       gewisse Sachen zugestoßen sind, weil wir erst äußerlich systematisch
       ausgelöscht wurden und dann auch innerlich, weil wir in den Medien und in
       Bildungseinrichtungen konsequent entmenschlicht und falsch dargestellt
       wurden, aber auch wir selbst mussten es erst mal verstehen.“
       
       Darüber hinaus ist „Verlorene Sterne“ sehr anspielungsreich, die [2][Harlem
       Renaissance] wird genauso zitiert wie zeitgenössische Popkultur oder
       indigene Kulturpraktiken. Die inneren Auseinandersetzungen und Monologe,
       die Orvil führt, sind sprachlich toll gelungen, Orange arbeitet mit
       Reihungen, Nebensatzketten, schafft gelungene Metaphern und Allegorien.
       
       Das repetitive Gitarrenspiel, das Orvil gegen Ende mit seiner
       Instrumentalband kreiert, wird etwa zum Bild für das Alltagsleben, für die
       viel zitierte ewige Wiederkehr des Gleichen (nach Nietzsche): „Mein Ziel
       und das meiner Bandkollegen ist schon immer das gleiche: musikalische
       Schleifen schaffen, die so, wie sie angelegt sind, nicht wie Schleifen
       klingen oder wirken, denn so kommt man raus aus der Schleife. Jeder Tag ist
       eine Schleife. Das Leben will dasselbe wie wir mit unserer Musik. […] Jeden
       Tag will uns das Leben überzeugen, dass es keine Schleife ist.“
       
       ## Die Wiederkehr der Schmerzen
       
       Die Schleife kann als Leitmotiv des gesamten Buchs gelten, auch der Schmerz
       kehrt in generationellen Schleifen wieder. Es ist daher sicher kein Zufall,
       dass Orvils Bruder Loother seine Tochter Opal nennt, als er gegen Ende der
       Handlung Vater wird: Sie bekommt denselben Namen wie seine Großtante und
       Quasigroßmutter.
       
       Orange fragt mit seinem Buch, ob man seiner Herkunft entkommen kann,
       Traumata gänzlich überwinden kann, ob man die Familie hinter sich lassen
       kann, in die man geboren wurde, ob man sich neu erfinden kann. Die Antwort
       ist nicht eindeutig, sie fällt je nach Figur, je nach Lebensphase anders
       aus. Insgesamt aber lautet sie wohl eher: nein.
       
       7 Nov 2024
       
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