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       # taz.de -- Roman Ehrlichs Roman „Videotime“: Der Horror in der Kleinstadt
       
       > In Roman Ehrlichs Gesellschaftsporträt blickt der Erzähler auf seine
       > Jugend zurück. Das seltsame Verhalten der Erwachsenen erklärt er sich mit
       > Actionfilmen.
       
   IMG Bild: Nachrichten aus fantastischen Welten: Videoladen in der Provinz, hier in Gießen
       
       Was könnte trauriger sein als der Blick auf eine verlassene Blechbaracke,
       die einmal einen Sehnsuchtsort beherbergt hat? Mit einem solchen Blick
       beginnt Roman Ehrlichs [1][Roman] „Videotime“. Ein guter Anfang. Denn neben
       aller Traurigkeit setzt so ein Ort einleuchtend Erinnerungen frei.
       
       Um Erinnerungen geht es. Wir sind in einer Kleinstadt in Bayern. Ein
       Ich-Erzähler kehrt an den Ort seiner Jugend zurück, um seinen Vater zu
       besuchen – was zunächst nach einem autofiktionalen Standardplot klingt.
       Doch das hier ist keine Autofiktion, und mit der Originalität wird es sich
       entwickeln. Es gibt in dieser Kleinstadt einen Autohandel, einen
       Tennisclub, Einfamilienhäuser, einen Elektrohandel, eine Konditorei, ein
       paar Hochhäuser mit migrantischen Bewohnern, etwas weiter entfernt ein
       Gefängnis – in dem der Vater, ein herrischer Mensch, der seinen älteren
       Sohn zum Tenniscrack dressieren wollte und zu seinem jüngeren Sohn, dem
       dicklichen Ich-Erzähler, nie recht Kontakt gefunden hat, als Justizbeamter
       arbeitete. All das werden wir beim Lesen kennenlernen.
       
       Und es gibt diese Blechbaracke. Aus ihr leuchtete früher die Videothek,
       nach deren Namen „Videotime“ der Roman nicht umsonst betitelt ist: „Die
       Videothek war ein Raumschiff, das in der Kleinstadt, in der Wohnsiedlung am
       Stadtrand, gelandet war. Und es brachte den Kleinstadtbewohnern Nachrichten
       aus phantastischen Welten: fremde Orte, verstörende Bilder, Gewalt, Sex,
       Sternenkrieg, Dinosaurier, schnellen Witz und unendlichen Verweisreichtum.“
       
       ## Milde ist der Roman gewiss nicht
       
       Erinnerungen, [2][Coming-of-Age], die Videothek als Wunschmaschine in einer
       deprimierenden Umgebung: Von da aus könnte man in diesem Roman einen
       sentimentalen, auch milden Blick zurück in eine Jugend in den 90er Jahren
       erwarten, aus der sich herauszuträumen allein die Videothek Gelegenheit
       bot. Doch das ist nur der Anfang, und milde ist dieser Roman ganz gewiss
       nicht. [3][Roman Ehrlich] macht etwas erzählerisch Waghalsigeres. Er stellt
       die Realität, in der der Erzähler aufwächst, und die von ihm mit komischer
       Genauigkeit nacherzählten Filme nebeneinander. Und irgendwann steht die
       Kleinstadt in ihrer vordergründigen Normalität erklärungsbedürftiger und
       hinter den Fassaden auch gewaltsamer da als der abgedrehteste Horror- oder
       Actionfilm.
       
       Mehr noch, erst die Filme bieten dem Erzähler Erklärmuster und handhabbare
       Bilder, um das seltsame Verhalten der Erwachsenen zu verstehen, die, so
       stumm wie verbissen, sich selbst das Leben als Paare und darüber hinaus
       auch das Leben ihrer Kinder in der Kleinstadt schwer machen, offenbar ohne
       darüber auch nur nachzudenken.
       
       So ist „Videotime“ eine Reise ins Herz der Finsternis, ein dunkles
       Gesellschaftsporträt. Er wollte in der Videothek „mehr schauen, mehr
       gezeigt bekommen, was sich anderswo abspielte, wo der Verkehr nicht
       beruhigt war und das Leben entsprechend entfesselt“, erinnert sich der
       Ich-Erzähler. Am Schluss des Romans hat er allerdings entdeckt, „dass sich
       diese Filme und die in ihnen dargestellten Figuren nur allzu gut dazu
       eigneten, eine dunkle Dynamik, die in den Verhältnissen unserer Eltern am
       Werk war, zu veranschaulichen“.
       
       In der cineastischen Mainstreamkultur der 80er und 90er Jahre ist dieser
       Roman dabei gut informiert. Filmstills solcher Klassiker wie „Natural Born
       Killers“, „Possession“, „The Thing“, „Total Recall“ oder „Universal
       Soldier“ strukturieren die Abschnitte. Die Nacherzählungen der Handlungen
       halten das schiere jugendliche Staunen über die Gewaltdarstellungen in den
       Filmen fest. Wunderbar kann Roman Ehrlich die Peinlichkeit einfangen, die
       sich einstellt, wenn zwei pubertierende Jugendliche nebeneinander auf dem
       Sofa sitzen und sich der Film, den sie sich ausgeliehen haben, als Porno
       herausstellt, während jeden Augenblick die Mutter ins Zimmer kommen kann.
       Und was Jean-Claude van Damme und Arnold Schwarzenegger für
       unwahrscheinliche Körperdarsteller waren, wird genauso einleuchtend
       beschrieben wie das coole Jungsgehabe, wenn ein Wrestlingfilm angeschaut
       wird.
       
       ## Ein Erzähler mit leicht zusammengekniffener Stirn
       
       Überhaupt die Sprache. Der Roman ist in einer leicht umständlichen, dabei
       aber sehr genauen Sprache erzählt. Kein Jugendlichenslang in der „Fänger im
       Roggen“-Tradition, sondern akribisch, als müsse sich dieser Erzähler wie
       mit stets leicht zusammengekniffener Stirn erst einmal selbst klarmachen,
       was er da sieht oder woran er sich erinnert. Dabei haben viele
       Formulierungen einen untergründigen Witz. „Ich fand in mir kein
       ausgeprägtes Interesse für irgendeine Form von Lohnarbeit.“ Solche hübschen
       Formulierungen finden sich häufig.
       
       Und die Details sind stets sorgfältig gesehen. Man kann die Wohnung, in der
       Ozan Kovačevski, ein Freund des Erzählers, mit seiner Mutter und seiner
       Schwester lebt, förmlich riechen, genauso wie den „Handschweiß der
       Generationen“, der sich in den Boxhandschuhen festsetzt, die der Erzähler
       in der Nachmittagsbetreuung anzieht. Außerdem enthält der Roman die
       schaurig-lustigsten pubertären Liebesszenen der jüngeren
       Gegenwartsliteratur; eine Zeit lang sieht der Erzähler dann auch die Filme
       mit den Augen eines Mädchens, das den wunderbar albernen Namen Lotta
       Continua trägt.
       
       Spätestens beim zweiten Lesen fällt einem auf, wie genau das alles
       erzählerisch verschraubt ist. Die dickste Villa in der Kleinstadt hat der
       Besitzer des Autohauses, das Leben darin wird als so entfremdet
       geschildert, dass sich die Unfall- und Körperfantasien des Films „Crash“,
       die gegen Ende des Romans eine große Rolle spielen, dagegen vernünftig
       ausnehmen. Und die Idee, dass sich in solchen Filmen eine Wahrheit des
       Erwachsenenlebens zeigen könnte, ist in dem Verdacht gespiegelt, dass in
       Fernsehgeräten etwas ins Gefängnis geschmuggelt werden könnte. Der
       Ich-Erzähler, der gerade ein Praktikum im Elektrogeschäft absolviert, wird
       hingeschickt und muss die Fernseher auseinanderschrauben. Bei der
       Gelegenheit sieht er seinen Vater zum ersten Mal als Aufseher.
       
       ## Kontinuierliche Gewaltverhältnisse im Hintergrund
       
       Je näher der Erzähler seinem Vater kommt, desto konsequenter laufen die
       Erzählstränge auf einen Hintergrund kontinuierlicher Gewaltverhältnisse zu,
       im Film wie im Leben. Über das Gangsterpaar Mickey und Mallory Knox in
       „Natural Born Killers“ nachdenkend, kommt der Erzähler darauf, dass seine
       Eltern, die sich inzwischen getrennt haben, über das „verbindende Element
       ihrer kriegerischen Väter zueinandergefunden haben“ könnten. Beide
       Großväter wurden im Zweiten Weltkrieg mehrfach verwundet und blieben in der
       Bundesrepublik „tief gekränkt darüber, dass ihnen ihr Dienst am Vaterland
       nie gedankt“ wurde. Der Roman schafft es, einen an dieser Stelle zutiefst
       erschrecken zu lassen – nicht über den Revanchismus, den kennt man ja,
       sondern über die Vorstellung, dass das alles in vielen Haushalten der
       Bundesrepublik tatsächlich niemals ernsthaft besprochen worden ist.
       
       Der wahre Horror ist die Normalität? Das so platt auf den Punkt zu bringen
       würde der erzählerischen Kunstfertigkeit, mit der Roman Ehrlich vorgeht,
       nicht gerecht. Aber dieser Roman bringt einen dazu, so einen Gedanken beim
       Lesen ständig im Kopf zu haben und gleichzeitig immer wieder neu über die
       Wendungen zu staunen, die er zwischen Film- und Alltagsbeschreibungen
       bereithält. Normalität noir, kunstvoll erzählt.
       
       18 Oct 2024
       
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