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       # taz.de -- Buch von Rabbinerin Delphine Horvilleur: Israels versehrter Körper
       
       > Die Rabbinerin Delphine Horvilleur hat ein Buch über jüdisches Leben nach
       > dem 7. Oktober geschrieben. Es ist humorvoll, lehrreich und berührend.
       
   IMG Bild: Menschen bei der Demonstration gegen Antisemitismus im November 2023. Doch wie reagiert man, wenn Marine Le Pen mit demonstriert?
       
       So wie Delphine Horvilleur erging es in den Tagen und Monaten nach dem 7.
       Oktober wohl vielen Jüdinnen und Juden auf der Welt. [1][Die prominente
       französische Rabbinerin versuchte, sich an irgendetwas zu klammern, sich
       ihrer selbst zu vergewissern, den Ursprüngen des Judentums nachzuspüren].
       
       Horvilleur fand etwas Halt in der Sprache des Jiddischen. Es hält
       Redensarten wie „Oy a brokh’“ oder „Oy vey“ bereit, die als Antwort auf die
       alltägliche Frage nach dem Befinden vieles bedeuten können, denen
       Weltschmerz genauso wie Hoffnung eingeschrieben sein kann.
       
       Die Autorin sieht im [2][Jiddischen als Mischsprache die Geschichte
       jüdischen Lebens] repräsentiert: „Es trägt die Spuren sämtlicher Orte, von
       denen wir vertrieben wurden – leidlich lebendig oder aber weidlich
       abgeschlachtet“, konstatiert sie bitter. Eine solche Sprache, die die
       Spuren der (Welt-)Geschichte in sich trägt, brauche es nach dem 7. Oktober
       überall, meint sie.
       
       Auch in der biblischen Geschichte des Jakob findet sie das jüdische
       Schicksal wieder: Jakob, der in der Parabel nach einem Bruderzwist mit Esau
       fliehen musste, kehrt zurück, wird dann im Ostjordanland von einem
       Unbekannten überfallen. Er ringt eine ganze Nacht lang mit ihm, wird dabei
       versehrt, ist aber am Ende siegreich. Es heißt, er habe mit Gott persönlich
       gekämpft, von nun an trägt er den Namen Israel.
       
       Horvilleur erkennt in diesem Text aus dem ersten Buch der Tora und in der
       Namensgebung den heutigen Staat Israel wieder.„Israels Körper ist versehrt,
       aber imstande, Angriffe abzuwehren“, schreibt sie.
       
       Beeindruckende Biografie 
       
       Delphine Horvilleur ist nicht nur Rabbinerin in einer liberalen jüdischen
       Gemeinde in Paris, sie ist seit vielen Jahren auch eine bedeutende
       französische Intellektuelle. Ihre Biografie ist beeindruckend: Sie wird
       1974 in Nancy in eine aschkenasische Familie hineingeboren, studiert als
       junge Frau Medizin in Jerusalem.
       
       Später geht sie ans Hebrew Union College in New York, wo sie zur Rabbinerin
       ordiniert wird. Nachdem sie daraufhin Rabbinerin in Frankreich wird, ist
       sie eine von zwei Frauen im gesamten Land, die dieses Amt innehaben.
       Zwischenzeitlich arbeitetet sie auch als Model und als Journalistin.
       
       Ihr Buch über das Leben nach dem 7. Oktober erschien kürzlich auf Deutsch,
       es heißt ganz schlicht: „Wie geht’s?“ Und wie der Titel mit der banalen
       Alltagsphrase es andeutet, geht es um die Möglichkeit des Sprechens nach
       dem Hamas-Massaker und den Folgen, das Buch ist in Form von fiktiven
       Zwiegesprächen verfasst.
       
       Horvilleur, die zuvor schon zwei Bücher auf Deutsch veröffentlicht hatte
       („Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, „Mit den Toten leben“), weiß,
       dass spätestens mit Beginn des Gazakriegs eine Sprache ohne Zwischentöne
       obsiegt hat: „Es liegt jedoch im Wesen des Krieges, dass er, zusammen mit
       den Unschuldigen und jeder Form der Differenziertheit, auch die Sprache
       tötet. Alles Gemäßigte verstummt, während die Radikalität aus Leibeskräften
       brüllt. Es werden Slogans gegrölt und alle gemäßigten Positionen in
       Geiselhaft genommen“, schreibt sie.
       
       Eine andere Sprache 
       
       Sie geht dabei von sich selbst aus; sie weiß, dass auch ihre Sprache eine
       andere geworden ist. Als sie Freunde kurz nach dem 7. Oktober fragt, ob sie
       mit zu einer Demonstration gegen [3][Antisemitismus] kämen, antworten diese
       ihr: „Es kommt gar nicht infrage, dass ich zu der Antisemitismusdemo gehe,
       da laufen ja sicher überzeugte Rassisten mit.“
       
       Es bleibt nicht der einzige Akt der Entsolidarisierung, denn vielen Linken
       und Liberalen gilt Horvilleur selbst plötzlich als eine Rechte. Sie wird
       immer nur gefragt, ob sie denn kein Verständnis für „die andere Seite“
       hätte.
       
       Sie beklagt diese Logik und schreibt: „Oft wird so geredet, als träfen
       gegnerische Mannschaften bei einem internationalen Sportwettkampf
       aufeinander, als müsste man als guter ‚Fan‘ die Gegenseite ausbuhen, die
       eigenen Vereinsfarben hochhalten und über die Schmach der anderen jubeln.
       Ich hasse Menschenmengen und ihre verletzende Psychologie.“
       
       Horvilleurs Waffe aber ist der Humor, das wird besonders in den Passagen
       deutlich, die vom Antisemitismus handeln. Sie spielt rhetorisch mit der
       Absurdität des Antisemitismus, verweist dabei auf die Querfronten, die
       gerade im vergangenen Jahr im Antisemitismus ihr Gemeinsames gefunden
       haben: „Der Judenhass bleibt auf immer und ewig eine Co-Produktion. Weder
       rechts noch links … oder vielmehr potenziell beides. Der Markt ist viel zu
       wichtig, als dass ein einziger Akteur das Monopol beanspruchen darf. So
       will es das Kartellrecht.“
       
       Jüdische Kulturgeschichte, biblische Parabeln 
       
       Horvilleur ist eine brillante Rhetorikerin, liebt die Sprache, geht
       entsprechend liebevoll mit ihr um, das blitzt in den Metaphern immer wieder
       auf („Kletterpflanzen des Hasses“). In ihre kleinen Geschichten webt sie
       die jüdische Kulturgeschichte und biblische Parabeln ein. „Wie geht’s?“ ist
       auch eine Einladung, sich jüdischer und jiddischer Geschichte zu widmen.
       
       So befasst sich Horvilleur mit dem jiddischen Volkslied „Dos Kelbl“, dessen
       Text der jüdische Künstler Aaron Zeitlin geschrieben und dessen Musik
       Sholom Secunda komponiert hat. Darin wird das „Kelbl“, das Kalb, auf dem
       Weg auf die Schlachtbank gefragt, warum es auch ein Kalb sei und keine
       Schwalbe, die davonfliegen könne und die niemals jemandes Knecht sei („Ver
       zhe heyst dikh zayn a kalb?/ Volst gekent tsu zayn a foygl/ Volst gekent
       tsu zayn a shvalb?“).
       
       1940 entstanden, ist „Dos Kelbl“ eine bittere Parabel auf den Transport ins
       KZ. Unter dem Namen „Donna Donna“ wurde das Lied oft adaptiert, auch
       Chansonnier Claude François hat ein französisches Lied daraus gemacht.
       Horvilleur greift die Entstehungsgeschichte des Lieds in einem fiktiven
       Dialog mit ihrer Großmutter auf.
       
       Der imaginäre Ort „Pitchipoi“ 
       
       Geschichten halfen Jüdinnen und Juden immer zu überleben oder das Überleben
       zu verlängern, so spielt Horvilleur auch auf den imaginären Ort „Pitchipoi“
       an, den jüdische Häftlinge im französischen Lager Drancy ersannen und sich
       so den Ort ausmalten, an den sie gebracht werden sollten. Sie wurden nach
       Auschwitz abtransportiert, Pitchipoi war eine Strategie mit der
       Ungewissheit umzugehen.
       
       Es ist vielleicht der suchende, grundehrliche Ton dieses Buchs, der am
       meisten beeindruckt. Die Geschichte über eine Sterbebegleitung und was die
       Autorin während dieses Prozesses lernt („Gespräch mit Rose“), ist
       vielleicht das beste Beispiel dafür. In den Gesprächen mit Rose nach dem 7.
       Oktober erkennt sie, dass sich „zwei Trauernde“ gegenübersitzen, „die
       wussten, dass nichts mehr so sein würde wie bisher“.
       
       Delphine Horvilleurs Buch liest sich, als würde sie grundlegend neu über
       Humanität nachdenken, als wäre man direkt dabei, wie sie sich in dieses
       neue Leben nach dem 7. Oktober hineintastet.
       
       18 Oct 2024
       
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