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       # taz.de -- Rechter Zeitgeist: Rezeptur für Momentum dringend gesucht
       
       > Die Gesellschaft driftet nach rechts. Unsere Kolumnistin macht sich
       > dennoch Hoffnungen, dass der Trend umkehrbar ist.
       
   IMG Bild: Es braucht wieder mehr Menschen, die „gegen rechts“ auf die Straße gehen
       
       We are not going back“ – das ist der Schlachtruf der
       US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, es ist ihre Antwort auf
       [1][das Gestern], das im „… great again“ der Trump-Kampagne gemeint ist. Es
       klingt fast gebieterisch, ein bisschen pädagogisch, es setzt darauf, dass
       die Leute weiterhin daran glauben wollen, dass das Morgen besser werden
       kann.
       
       Im andauernden Gespräch darüber, wie die US-Democrats es schaffen,
       fortschrittliche Botschaften emotional und eingängig zu verbreiten, hört
       man da natürlich genau hin. Für mich und hierzulande muss ich leider
       festhalten, dass [2][„We are not going back“] erst einmal traurigen
       Sarkasmus auslöst: Ich fürchte, wir fallen durchaus zurück, und zwar in
       ungefähr allen wichtigen Politikbereichen.
       
       Zur Illustration bedarf es nur eines beliebigen Griffs in die
       Nachrichtenkiste, aber ich kann es auch privat beschreiben. Noch während
       ich mich am Abendbrottisch darüber unterhalte, dass der schwarz-rote
       Berliner Senat den [3][Ausbau der Radwege] – so werden hier die Holperpfade
       über den Baumwurzeln am Straßenrand genannt – stoppt, beginnt im
       [4][Deutschlandfunk der „Hintergrund“ über die Schweiz] (das sind die mit
       dem Frauenwahlrecht seit 1971), wo nach dem jüngsten Sieg der
       Rechtspopulisten der Anteil der Frauen im Parlament wieder abnimmt.
       
       Der bezaubernde Blattkritiker – ein Ex-taz-Kollege, den wir Anfang der
       Woche zu Gast in der Konferenz hatten – fasste all das als [5][„rechten
       Zeitgeist“] zusammen, der beinahe übernommen habe. Die Jahre seien vorbei,
       in denen wir in dem Gefühl lebten, Klimaschutz und Gleichberechtigung seien
       auf dem Vormarsch. War eben bloß ein Gefühl.
       
       ## Schreihälse sind zwar laut, aber nicht die Mehrheit
       
       Oder ist es das jetzt auch bloß? Klimaschutz sei im Ranking zwar hinter
       Krieg zurückgefallen, aber es haben weiterhin wesentlich mehr Leute
       [6][Angst vor der AfD und Fremdenfeindlichkeit] als vor Zuwanderung,
       [7][ergab gerade eine Studie] der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ich mag deren
       wissenschaftlichen Apparat jetzt nicht einschätzen, doch hilft es, sich zu
       vergegenwärtigen, dass die Schreihälse zwar laut, aber weit entfernt von
       der Mehrheit sind. Der Anteil derer, die in den sozialen Medien [8][den
       rechtsextremen Trommelwirbel] auf Endlosschleife gestellt haben, ist
       verschwindend gering, darauf [9][weisen Digital-PolitologInnen immer wieder
       hin]. Man darf die Atmo auf Twitter/X nicht mit der Stimmungsgesamtlage
       verwechseln.
       
       Was allerdings nichts nützt, wenn trotzdem rechts regiert wird. Derselbe
       Kanzler, der behauptet, der Einzige zu sein, der in Ukrainedingen das Ohr
       am leise atmenden Brustkorb der Mehrheit hat, reagiert ausgesprochen pronto
       auf jede Ausländer-raus-jetzt-Forderung, die ihm auf dem Flur
       entgegenschallt. Und nein, ich möchte das „Sicherheitspaket“ nicht als
       quasi großkoalitionären Masterplan verkauft bekommen, das Thema Migration
       aus dem Bundestagswahlkampf rauszuhalten, indem man es jetzt „abräumt“. Es
       wird dabei zu viel mit abgeräumt. Da waren ein paar liberal-humanitäre
       Aspekte dabei, die wir noch brauchen.
       
       Was nützen würde, wäre, wenn jemand jenes berühmt-berüchtigte Momentum
       zurückholen würde, dieses so schwer zu beschreibende, aber mächtige
       Phänomen, diesen Impuls, der im vergangenen Winter zu den lustigen und
       teils auch mutigen [10][Demos im ganzen Land] führte, „gegen rechts“ und
       für ein demokratisches und gleichberechtigtes Morgen. „Diese Demos kommen
       zu früh“, sagte damals ein Beobachter ahnungsvoll. Sollte jetzt also jemand
       die Rezeptur finden für das Verfertigen einer politischen Gesamtwetterlage
       – soundso viele Anteile TikTok plus zwei Kubikmeter Twitter plus zigtausend
       Leute jeden Samstag auf den Marktplätzen der Republik oder Ähnliches –:
       Bitte melden!
       
       20 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Abtreibungsrecht-in-den-USA/!6040379
   DIR [2] https://www.vanityfair.com/news/story/we-are-not-going-back-kamala-harris-campaign
   DIR [3] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/07/fahrrad-berlin-radschnellwege-planungen-vorerst-beendet.html
   DIR [4] https://www.deutschlandfunk.de/schweiz-frauen-kommen-in-der-politik-nur-langsam-voran-dlf-cc8b12d9-100.html
   DIR [5] /Rechtsextreme-Jugend/!6024038
   DIR [6] /Wahlen-in-Brandenburg/!6035436
   DIR [7] https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/sorgen-und-aengste-der-waehlerschaft-ergebnisse-aus-repraesentativen-umfragen
   DIR [8] /Medienforscher-zu-Nazis-auf-Social-Media/!6036848
   DIR [9] https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.adl4435
   DIR [10] /Demonstrationen-gegen-rechts/!6010897
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Winkelmann
       
       ## TAGS
       
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