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       # taz.de -- Tötung von Hamas-Chef Sinwar: Eine neue Chance
       
       > Israels Armee ist es gelungen, Hamas-Chef Jahia Sinwar zu töten. Ist das
       > ein Wendepunkt im Gazakrieg, der seit einem Jahr kein Ende zu finden
       > scheint?
       
   IMG Bild: Hamas-Führer Yahya Sinwar 2022
       
       Jerusalem/Berlin taz | Es ist ein apokalyptisches Video, das die letzten
       Momente von Jahia Sinwar zeigt und kurz nach seinem Tod vom israelischen
       Militär veröffentlicht wurde. [1][Aufgenommen von einer Drohne], die in das
       zweite Stockwerk eines zerstörten Hauses fliegt, zeigt es einen Menschen,
       gebückt zwischen Trümmern auf einem verstaubten Sessel.
       
       Den Kopf in das Palästinensertuch gehüllt, die rechte Hand zerfetzt. Als
       die Drohne heranfliegt, ein kurzes Aufbäumen: Mit der linken Hand wirft er
       mit einem Holzscheit auf die Drohne. Kurz darauf jagt das israelische
       Militär das Haus in die Luft. Die Soldaten hatten den Hamas-Chef nicht
       gezielt aufgespürt, sondern wohl während einer Patrouille eher zufällig
       entdeckt.
       
       Doch das Video könnte als Metapher für den Zustand der Hamas gesehen
       werden: einsam, verwundet, ohne Zukunft.
       
       Ist die [2][Tötung des Drahtziehers des Massakers] vom 7. Oktober 2023 ein
       Wendepunkt im Gazakrieg, der seither kein Ende zu finden scheint? Ist dies
       die Chance auf einen Waffenstillstand und eine [3][Freilassung der
       Geiseln]? Viele hoffen darauf, Israelis wie Palästinenser*innen.
       Regierungschefs sprechen von einer „konkreten Aussicht auf einen
       Waffenstillstand“, so wie Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag in Berlin
       bei seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Der stimmte ein: Nun sei der
       Zeitpunkt, „um sich in Richtung Waffenstillstand zu bewegen“.
       
       ## Ein Funken Hoffnung
       
       Auch der palästinensisch-amerikanische Aktivist und Autor Ahmed Fouad
       Alkhatib sieht einen Funken Hoffnung. Zwar wirke es wie Wunschmusik, so
       Alkhatib [4][in einem Gespräch mit der US-Denkfabrik Atlantic Council],
       doch er halte es für möglich, dass der in Katar sitzende politische Flügel
       der Hamas nach Sinwars Tod den militärischen Flügel in Gaza zu einem
       unilateralen Waffenstillstand drängen könnte. Selbst ein Verzicht auf
       bewaffneten Widerstand sei denkbar. Sogar unter Hamas-Kämpfern in Gaza, bei
       den Kassam-Brigaden, gebe es Stimmen, die für ein unilaterales Ende der
       Kämpfe seien.
       
       Tatsächlich ist die Hamas nach einem Jahr Krieg stark geschwächt. Zwar
       feuerte die radikalislamische Miliz am Jahrestag des 7. Oktober zum ersten
       Mal seit Monaten einige Raketen auf Tel Aviv, doch ihr Waffenlager ist wohl
       extrem ausgedünnt. Auch gibt es Hinweise auf einen Stimmungsumschwung in
       der leidenden Zivilbevölkerung Gazas: Einer Umfrage [5][des Palestinian
       Center for Policy and Survey Research (PSR) zufolge] hat im September zum
       ersten Mal eine Mehrheit der befragten Bewohner gesagt, dass der Angriff
       auf Israel am 7. Oktober eine Fehlentscheidung gewesen sei.
       
       Andere hingegen sehen in dem Tod Sinwars den eines heroischen Märtyrers,
       der im Kampf an der Seite von Hamas-Kämpfern getötet wurde. Auf X gehen
       Bilder von Sinwar mit festem Blick in die Ferne viral. Im Hintergrund die
       palästinensische Fahne und Gleitschirme, mit denen die Hamas am 7. Oktober
       Israel vom Meer aus überfiel.
       
       Mitentscheidend für die Weichenstellung im Nahen Osten ist nun die Frage
       nach Sinwars Nachfolge. Einiges deutet darauf hin, dass dessen Bruder,
       Mohammed Sinwar, in seine Fußstapfen treten und die Führung des
       militärischen Flügels übernehmen könnte. Als einer der Topkommandanten der
       Kassam-Brigaden würde er wohl eine ähnlich radikale Haltung wie sein Bruder
       übernehmen. Dass er den Weg zur Freilassung der Geiseln erleichtern wird,
       ist fraglich. Unklar ist außerdem, ob der Führungsanspruch des Nachfolgers
       von allen Hamas-Zellen anerkannt werden wird – und wer im Gerangel zwischen
       dem militärischen Flügel in Gaza und der politischen Führung im Ausland den
       Ton angeben wird.
       
       ## Benjamin Netanjahu hält sich bedeckt
       
       Auch auf israelischer Seite gehen die letzten Bilder Sinwars viral.
       Regierungschef Benjamin Netanjahu hat nun das Foto, auf das er seit Langem
       gewartet hat. Um Sinwars Leichnam zwischen Trümmern stehen eine Handvoll
       Soldaten und blicken auf ihn herab. Deutlicher dürfte der „absolute Sieg“,
       den Netanjahu seit mehr als zwölf Monaten so häufig als Ziel ausgerufen
       hat, sich auch in Zukunft kaum zeigen lassen.
       
       Doch in einer Videoansprache am Abend hielt sich der Regierungschef
       bedeckt. An die Adresse der Geiselangehörigen sagte er: „Wir werden mit all
       unserer Kraft weitermachen, bis alle eure Liebsten zurück sind.“ Von einem
       Abkommen kein Wort. Stattdessen betonte Netanjahu, der Krieg sei „noch
       nicht vorbei“. Hamas-Angehörigen, die ihre Waffen niederlegen und die
       Geiseln zurückbringen würden, versicherte er, sie könnten „herauskommen und
       leben“. Erst am Freitagmorgen kündigte er ein Treffen zwischen Ministern
       und den Sicherheitsbehörden an, um die Wiederaufnahme von Verhandlungen zu
       erörtern.
       
       Ob Sinwars Tod in der israelischen Politik etwas verschiebt, bleibt
       abzuwarten. Am Donnerstagabend traten zum einen Freude und Genugtuung über
       dessen Tötung in Israel zu Tage. Doch auch die Spaltung des Landes wurde
       deutlich. Einav Zangaucker, Mutter des in Gaza gefangenen Matan und eine
       der bekanntesten Stimmen der Angehörigen, sagte in einer Videobotschaft:
       „Es wird keinen vollständigen Sieg geben, wenn wir nicht ihre Leben retten
       und sie alle zurückbringen.“
       
       Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner Itamar Ben Gvir und Bezalel
       Smotrich hingegen forderten noch am Donnerstagabend, die Armee müsse den
       militärischen Druck aufrechterhalten. So sollten Hamas-Kämpfer zur Aufgabe
       und zum Verlassen des Küstenstreifens bewegt werden. Die Angehörigen der
       national-religiösen Siedlerbewegung nutzen den Krieg seit einem Jahr, um
       ihre Vertreibungsfantasien gegen Palästinenser voranzubringen. Mit der
       Drohung, die Regierung zu Fall zu bringen, treiben sie Netanjahu vor sich
       her.
       
       ## Netanjahu gewinnt das Vertrauen vieler Bewohner*innen
       
       Der Tod Sinwars könnte dieses Kräfteverhältnis jedoch verschieben.
       Netanjahu, der nach dem 7. Oktober bei vielen Israelis in Ungnade gefallen
       war, hat viel Boden gutgemacht. Bereits die gezielten [6][Tötungen von
       Sinwars Vorgänger Ismail Hanija] in Teheran und Hisbollah-Anführer
       [7][Hassan Nasrallah in Beirut] hatten Netanjahu und seiner Likudpartei in
       Umfragen einen Schub verschafft. Mit dem Krieg im Libanon gewann er zuletzt
       das Vertrauen vieler Bewohner*innen im Norden des Landes wieder.
       
       Angesichts des ständigen Beschusses durch die Hisbollah im Libanon fühlten
       sie sich von der Regierung im Stich gelassen. Nun versammeln sie sich
       hinter dem Krieg. Die Tötung von Sinwar, der auf der Liste der israelischen
       Ziele ganz oben stand, könnte dem Regierungschef einen weiteren Push geben
       – und ihn von seinen national-religiösen Koalitionspartnern wieder
       unabhängiger machen.
       
       Der Kampf an mehreren Fronten setzt Israel zunehmend unter Druck. Erst am
       Donnerstag starben fünf Soldaten bei Gefechten im Libanon. Am Freitag
       mobilisierte die israelische Armee weitere Reservisten. Die von Iran
       unterstützte libanesische Schiitenmiliz Hisbollah kündigte nach dem Tod
       Sinwars bereits eine „neue und eskalierende Phase“ im Krieg mit Israel an.
       Ein israelischer Gegenschlag auf den iranischen Raketenangriff vom 1.
       Oktober steht noch immer aus.
       
       Ein Waffenstillstand in Gaza könnte auch die anderen Fronten beruhigen. Die
       Tür dazu steht nun möglicherweise offen. Ob sie genutzt werden wird, ist
       eine andere Frage.
       
       18 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://x.com/LTC_Shoshani/status/1847009507685146644
   DIR [2] /Israels-Militaer-toetet-Hamas-Chef-Sinwar/!6043604
   DIR [3] /Ein-Jahr-7-Oktober/!6038103
   DIR [4] https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/experts-react/experts-react-yahya-sinwar-is-dead-heres-whats-next/
   DIR [5] https://www.pcpsr.org/en/node/991
   DIR [6] /Krieg-in-Nahost/!6027289
   DIR [7] /Tod-von-Hassan-Nasrallah/!6036732
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Wellisch
   DIR Judith Poppe
       
       ## TAGS
       
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