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       # taz.de -- Gewalt gegen Frauen: Und die Politik schweigt
       
       > Dank des Muts von Gisèle Pelicot sprechen wir endlich wieder über
       > sexualisierte Gewalt. Es ist Zeit, dass die Politik ihrer Verantwortung
       > nachkommt.
       
   IMG Bild: Feminist_innen zeigen Mitte Oktober in Paris Solidarität mit Gisèle Pelicot
       
       Die feministische #MeToo-Bewegung hat eine neue Ikone. Ihr Name: Gisèle
       Pelicot. Die 72-jährige Französin [1][steht als Zivilklägerin in Avignon
       vor Gericht], ihr Mann hat sie jahrelang unter Drogen gesetzt, vergewaltigt
       oder anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Mindestens 200 Mal soll
       sie Opfer sexualisierter Gewalt geworden worden sein – und zwar ohne, dass
       sie es wusste. Nur durch einen Zufall, wegen einer polizeilichen
       Hausdurchsuchung anlässlich einer anderen Straftat, kam der Fall ans
       Tageslicht.
       
       In der Regel finden Verhandlungen über so schwere Gewalttaten unter
       Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Um die Persönlichkeitsrechte der
       Angeklagten zu wahren, aber auch um den Betroffenen einen geschützten Raum
       zu bieten. Schließlich geht es um intime Details, verstörende Videos und
       traumatisierende Erfahrungen. Gisèle Pelicot aber verzichtet auf diesen
       geschützten Raum. Sie möchte ihren Namen und ihr Gesicht zeigen, um allen
       Frauen, die sich nicht wehren können, eine Stimme zu geben. „Die Scham muss
       die Seite wechseln“, sagt sie. Denn nicht die Opfer, sondern die Täter sind
       es, die sich schämen sollten.
       
       Seit Wochen sitzt Pelicot nun also im Gerichtssaal und muss sich anhören,
       wie Dutzende Männer erklären, warum sie es für normal hielten, eine
       narkotisierte Frau zu penetrieren oder ihr den Penis in den Mund zu
       stecken, den sie nicht einmal von selbst öffnen konnte. Nicht alle sind wie
       der Ehemann geständig. Im Gericht sieht Pelicot die Videos von den
       Vergewaltigungen und muss zuhören, wie die Ehefrauen der Angeklagten
       beteuern, ihr Mann könne gar kein Vergewaltiger sein.
       
       ## Neuer Aufschwung in der #MeToo-Bewegung
       
       Das auszuhalten, kostet Kraft und Mut, und für diesen wird Pelicot weltweit
       gefeiert. Wenn sie den Gerichtsaal verlässt, stehen Feminist_innen Spalier
       und applaudieren. Tausende tragen Pelicots Gesicht auf die Straße, sprühen
       es an Wände oder posten es in sozialen Medien. Sie fordern, dass dieser
       Prozess endlich auch zu politischen Veränderungen führt. Internationale
       Medien berichten, der Fall wirkt weit über die Grenzen Frankreichs hinaus.
       Gisèle Pelicot hat der #MeToo-Bewegung zu neuem Aufschwung verholfen.
       
       Gisèle Pelicot wurde jahrelang unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Der
       US-Rapper P. Diddy [2][soll ein Missbrauchssystem ähnlich wie Jeffrey
       Epstein] geführt haben. Die olympische Läuferin Rebecca Cheptegei aus
       Uganda [3][wurde von ihrem Partner angezündet und getötet]. In Istanbul
       tötete ein Mann zwei 19-jährige Frauen, eine von ihnen enthauptete er. In
       Südkorea [4][schockiert ein Deepfake-Porno-Skandal], minderjährige Täter
       von über 500 Schulen sollen Fotos ihrer Mitschülerinnen und Lehrerinnen zu
       Pornobildern generiert haben.
       
       Ein Mann in Essen [5][verletzte aus misogynen Motiven 31 Menschen, 17 davon
       schwer, zwei Kinder lebensgefährlich], als er zwei Wohnhäuser anzündete,
       mit einem Lieferwagen in Geschäfte fuhr und mit einer Machete durch die
       Straßen zog. In Berlin wurden innerhalb weniger Tage zwei Frauen von ihren
       Ex-Männern getötet. Bei dem „DSDS“-Juror Pietro Lombardi gab es einen
       Polizeieinsatz, ihm wird häusliche Gewalt vorgeworfen. Die Liste der
       Schlagzeilen ließe sich beliebig verlängern, wobei sich jede einzelne
       Nachricht anfühlt wie ein Schlag in den Magen.
       
       ## Das ist kein spezifisch französisches Problem
       
       Ausgelöst durch die [6][Recherchen zu vielfachem Missbrauch durch den
       Filmproduzenten Harvey Weinstein] und den Mut Tausender Frauen, die ihre
       Erfahrungen mit der Öffentlichkeit teilten, diskutieren wir nun seit genau
       sieben Jahren unter #MeToo über sexualisierte Gewalt. Wir zeigen
       Leerstellen bei Justiz und Politik auf, identifizieren
       Grenzüberschreitungen und loten Grauzonen aus. Die Erfolge der
       internationalen Bewegung sind nicht zu übersehen: In fast allen Sparten hat
       #MeToo Spuren hinterlassen.
       
       Viel hat sich getan seit Oktober 2017, und es fühlt sich so an, als würde
       sich etwas in die richtige Richtung bewegen. Doch die polizeilichen
       Statistiken und die Dunkelfeldforschung zeigen etwas anderes. Sie zeichnen
       das Bild einer desaströsen Lage, die sich immer weiter verschärft. In
       Deutschland steigt die Zahl der häuslichen, sexualisierten und auch der
       tödlichen Gewalt gegen Frauen an. Fast jeden zweiten Tag verüben Männer in
       Deutschland Femizide, 700 Menschen werden täglich Opfer von häuslicher
       Gewalt, die Zahl schwerer sexueller Übergriffe erreichte einen Höchststand.
       
       Diese Zahlen lassen sich nicht nur mit einer höheren Anzeigenbereitschaft
       erklären. Der Anstieg der Fallzahlen ist real. Denn auch das ist eine
       traurige Wahrheit von #MeToo: Für jeden emanzipatorischen Fortschritt gab
       es einen Rückschritt. Das Patriarchat ist ein harter Gegner, der bei jeder
       Errungenschaft mit doppelter Kraft zurückschlägt.
       
       ## Reden allein reicht schon lange nicht mehr
       
       Umso wichtiger, dass wir diesen Fällen immer wieder Aufmerksamkeit schenken
       und sie nicht einfach als Teil unseres Alltags akzeptieren. Wir dürfen
       nicht aufhören, darüber zu reden. Aber reden allein reicht schon lange
       nicht mehr aus. Die feministische Forderung nach einem gesellschaftlichen
       Wandel droht zu einer Worthülse zu verkommen, weil sie kontinuierlich
       wiederholt wird, es aber von politischer Seite kaum Reaktionen darauf gibt.
       Ihr Schweigen dröhnt mindestens so laut wie das der Männer.
       
       In Frankreich haben sich ein paar Wochen nach Prozessbeginn zwar ein paar
       Politiker_innen zu verurteilenden Worten durchringen können und eine
       parlamentarische Kommission wurde eingerichtet, doch konkrete
       Schutzmaßnahmen oder Gesetzesänderungen sind bislang nicht geplant. Ein
       Skandal könnte man meinen, wenn nicht einmal ein so drastischer Fall die
       Politik aufrütteln kann. Doch das ist kein spezifisch französisches
       Problem, auch in Deutschland läuft es nicht besser.
       
       Dabei fing die Ampelregierung vielversprechend an. In ihrem
       Koalitionsvertrag versprach sie uns das Jahrzehnt der Gleichberechtigung.
       Darunter verstand sie die Stärkung ökonomischer Gleichstellung, die
       Freiheit von Gewalt und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die
       Hälfte dieses Jahrzehnts ist nun fast erreicht, doch die Erfolge blieben
       überschaubar.
       
       ## Wieso wurde noch kein Notstand ausgerufen?
       
       Als ein mutmaßlicher Islamist auf einem Stadtfest in Solingen Ende August
       drei Menschen tötete, begaben sich die Parteien in einen
       Überbietungswettbewerb der Asylverschärfungen. Fünf Tage später stellte die
       Regierung ein Maßnahmenpaket zu Sicherheit und Asyl vor. Auch wenn dies die
       falschen Reaktionen sind, zeigen sie, dass Politik durchaus handlungsfähig
       sein kann. Als wenige Tage später ein [7][Mann in Essen aus misogynen
       Motiven 31 Menschen verletzte], zwei Wohnhäuser anzündete, mit einem
       Lieferwagen in Geschäfte fuhr und mit einer Machete durch die Straßen zog –
       war das fünf Tage später schon wieder in Vergessenheit geraten. Dass in der
       gleichen Zeit in Berlin innerhalb weniger Tage zwei Frauen von ihren
       Ex-Männern getötet wurden, haben die wenigsten überhaupt mitbekommen. Dabei
       stellt sich eigentlich jeden Tag die Frage: Wieso wurde noch kein Notstand
       ausgerufen?
       
       Gleichberechtigung in zehn Jahren zu erreichen und damit
       geschlechtsspezifische Gewalt zu überwinden, ist ein ambitioniertes Ziel.
       Doch es gäbe so viele wirksame Maßnahmen, die nichts mit höheren
       Gefängnisstrafen, strengeren Überwachungen oder schärferen Asylgesetzen zu
       tun haben. Ein verpflichtender systematischer und sensibler Umgang durch
       Polizeibeamt_innen bei häuslicher Gewalt sowie flächendeckende anonyme
       Spurensicherung wären ein erster Schritt. Die Einführung einer
       Koordinierungsstelle für alle Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt sowie
       runde Tische für Hochrisikofälle können Leben retten.
       
       Auch ein breiter Ausbau von (präventiver) Täterarbeit ist dringend
       notwendig. Und solange die Bundesregierung nicht allen Frauen bezahlbaren
       Wohnraum und finanzielle Unabhängigkeit garantieren kann, muss sie dafür
       sorgen, dass es ausreichend Schutzräume für Gewaltbetroffene gibt. Einer
       Anfrage der Linkspartei zufolge fehlen aktuell 14.000 Frauenhausplätze.
       
       Dass diese Schritte notwendig sind, hat Deutschland längst eingesehen, ihre
       Umsetzung schon 2011 mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention
       vertraglich zugesichert. Doch fragt man beim Bundesfamilienministerium
       nach, wie die Umsetzung vorankommt, welche Maßnahmen gegen die verschärfte
       Gewaltsituation akut ergriffen werden oder was passieren muss, damit wir
       die Gleichstellung bis zum Ende des Jahrzehnts erreichen, verweist eine
       Sprecherin immer wieder auf das geplante Gewaltschutzgesetz. Damit gäbe es
       in Deutschland erstmals einen Rechtsanspruch auf Beratung und Schutz bei
       geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt.
       
       Das Gesetz ist tatsächlich ein wichtiges Vorhaben, das die Bundesregierung
       seit Jahren ankündigt. Zuletzt haben in der Sache Verbände, Initiativen und
       Prominente mit einem Brandbrief Druck gemacht, doch es lässt weiter auf
       sich warten. Ein Referentenentwurf liegt zwar vor, doch es laufen laut
       einer Sprecherin noch „regierungsinterne Abstimmungen“. Die Umsetzung in
       dieser Legislaturperiode sei das Ziel.
       
       ## Männer sind hier ganz besonders mitgemeint
       
       Der Gesellschaft bleibt nur die Hoffnung, dass das gelingt. Denn ob das
       Gesetz auch nach der nächsten Wahl käme, bleibt zweifelhaft. Momentan ist
       die CDU stärkste Kraft in den Umfragen und ihr Kanzlerkandidat Friedrich
       Merz, der 1997 gegen Vergewaltigung in der Ehe als eigenen Straftatbestand
       stimmte, nicht gerade als Feminist bekannt.
       
       Gisèle Pelicot hat recht, wenn sie fordert: „Die Scham muss die Seite
       wechseln.“. Doch die Verantwortung muss es auch. Es kann nicht sein, dass
       auch diese noch auf den Schultern der Opfern liegt. Vielmehr sollten wir
       alle – und ja, hier sind Männer ganz besonders mitgemeint – die
       #MeToo-Welle nicht an uns vorbeiziehen lassen, sondern die neue
       Aufmerksamkeit nutzen, um die Regierungen zum Handeln zu zwingen.
       
       Sieben weitere Jahre, in denen sich nicht wirklich etwas bewegt, können wir
       uns schlicht nicht leisten. Sie würden zu viele Gewaltopfer und Tote
       kosten.
       
       Carolina Schwarz leitet das Ressort taz zwei und hat Mitte Oktober ein Buch
       zum Thema veröffentlicht. „#MeToo. 100 Seiten“ ist im Reclam-Verlag
       erschienen.
       
       19 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vergewaltigungsprozess-in-Frankreich/!6032713
   DIR [2] /P-Diddy-ist-kein-Einzelfall/!6035914
   DIR [3] /Ugandische-Athletin-ermordet/!6034954
   DIR [4] https://www.bbc.com/news/articles/cpdlpj9zn9go
   DIR [5] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/31-verletzte-bei-braenden-in-essen-41-jaehriger-festgenommen,UPjUprI
   DIR [6] /Harvey-Weinstein-wieder-vor-Gericht/!6004920
   DIR [7] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/31-verletzte-bei-braenden-in-essen-41-jaehriger-festgenommen,UPjUprI
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
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