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       # taz.de -- Die Grünen, Klima und Zeitgeist: Die Krise der Grünen ist unser aller Krise
       
       > Die fetten Jahre sind vorbei. Weil die Grünen das kapieren, werden sie
       > zum Sündenbock. Wie kann man dieser Tage noch Zukunft gestalten?
       
       Wenn man in diesem Herbst mit Grünen über ihre Lage redet, dann gibt es
       zwei Gruppen, mal abgesehen vom Vizekanzler. Die einen reden einfach weiter
       ihr Zeug, als könnten sie die Krise damit zumindest von sich fernhalten.
       Andere sagen nach einer gewissen Brabbelphase im Off dann etwas
       Ungewöhnliches: dass sie ratlos seien.
       
       Damit ist die Lage auf den Punkt gebracht. Nicht nur die der Partei,
       sondern die der liberaldemokratischen Politik, der Mediengesellschaft und
       letztlich der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind nicht mehr Papst, wir
       sind nicht mehr Weltmeister, wir sind ratlos. Und je ratloser wir werden,
       desto lauter brabbeln wir weiter.
       
       Es handelt sich fast immer um Selbstablenkungsaktivismus. Bis hin zur
       Großdebatte über die emanzipatorische Rückständigkeit eines früheren
       Fernsehsuperstars, die Pars pro Toto für den diskursiven Stillstand unter
       emotionalem Hochdruck steht. Die einen sagen: schlimm. Die anderen: Nein,
       ihr seid schlimm. Die Nächsten: Wir haben echt Wichtigeres zu tun. Die
       anderen: Typisch antiemanzipatorischer Whataboutism. Und noch andere: Was
       ist das denn nun schon wieder Neumodisches?
       
       Nun will ich nicht behaupten, dass die Grünen keine Probleme hätten. Ich
       will nur zunächst den Rahmen beschreiben, in dem das verhandelt wird.
       Dieser Rahmen ist die Spätmoderne und der Westen und die Bundesrepublik
       Deutschland in einer veritablen System- und Kulturkrise. Viel wurde
       erreicht mit den Mitteln des emanzipatorischen und fossil befeuerten
       Sozialdemokratismus.
       
       Doch aus den offensichtlichen Gründen – Erderhitzung, Zerstörung
       planetarischer Grundlagen, globale Umverteilung von Wohlstand, neuer
       Systemkampf zwischen liberalen Demokratien und Autokratien und anderes –
       hat sich der Rahmen für Staat, Gesellschaft und Individuum so verändert,
       dass das bewährte politische Werkzeug und die gesellschaftliche Kultur
       keine Zukunft mehr hat, nicht mal mehr eine Gegenwart. Die Verluste des
       Fortschritts werden sichtbarer und spürbarer und es nehmen die Zweifel zu,
       ob liberale Demokratien das reparieren werden können, wie Andreas Reckwitz
       in seinem neuen Buch „Verlust“ beschreibt.
       
       Je klarer das wird, desto größer wird die Unsicherheit und die Angst. Und
       desto stärker wird die Sehnsucht, dass es eben doch irgendwie hinhaut,
       indem man die radikalen Veränderungen des Rahmens ignoriert und halt „erst
       mal“ ohne emissionsfreies Heizen und mit Verbrennungsmotoren weitermacht.
       
       ## Botschafter der Postmoderne
       
       In diesem Zusammenhang wird den Grünen zweierlei vorgeworfen: dass sie zu
       viel gemacht hätten und dass sie zu wenig gemacht hätten.
       
       Wie passt das zusammen? So: In Bezug auf den veränderten planetarischen und
       geopolitischen Rahmen machen sie als Teil der Regierung viel zu wenig. In
       Bezug auf die Erstarrung des bundesrepublikanischen Lebensgefühls machen
       sie sich mit Zukunftspolitik gemein und werden dafür – choreografiert von
       globalen und nationalen Machtinteressen – durchs Dorf gejagt. Es ist wie
       mit dem antiken Boten, der die schlechte Nachricht bringt und dafür getötet
       wird. Das löst das Problem nicht, aber für einen Moment fühlt es sich wie
       Handeln an.
       
       Dabei hatte die Zukunftsorientierung ins postfossile Wirtschaften und Leben
       ein Jahrzehnt lang für die Grünen eingezahlt. Erst durch die
       Atomkatastrophe von Fukushima und dann vor allem durch Fridays for Future
       versöhnten sich wachsende Teile der Gesellschaft mit dem Gedanken: Dann
       machen wir das halt jetzt.
       
       Am Beispiel von Baden-Württemberg und seines langjährigen Grünen
       Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann kann man sehen: Dieser Impuls muss
       von außerhalb der Grünen kommen und breite emotionale Kraft haben, in
       seinem Fall war das Fukushima 2011. Aber man kann den Impuls nutzen und
       verstetigen durch mehrheitsorientierte Politik, wie Kretschmann durch zwei
       Wiederwahlen bewiesen hat, zuletzt mit 32,6 Prozent.
       
       ## Klimapolitik vor verschlossenen Toren
       
       Dieses positive Gefühl gegenüber Klimapolitik ist inzwischen durch
       verschiedene Kräfte und Treiber in ein negatives verwandelt, das sich auch
       gegen die Grünen wendet. Weil die Erderhitzung heute aber nicht mehr zu
       leugnen ist, sondern nur noch zu relativieren, wird das verbrämt mit dem
       berühmten Blockierersatz: „Grundsätzlich schon, aber nicht jetzt und nicht
       sooo.“ Als Beleg nimmt man dankbar den (teilweise abgebrochenen) Versuch
       der Bundesregierung, durch eine Novelle des Gebäude-Energie-Gesetzes (GEG)
       der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens näherzukommen.
       
       Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder dieses „Heizungsgesetz“ war wirklich
       so schlecht gemacht, wie es die Deutungshoheit zu sein scheint. Oder es
       wurde genauso zur Desavouierung von Klimapolitik genutzt wie dereinst der
       „5 Mark-Benzinpreis“ und der „Veggie-Day“. Ich tendiere zu letzterer
       Einschätzung.
       
       Im Moment ist Zukunftspolitik jedenfalls weitgehend desavouiert, und es
       sind die Bundesgrünen als aktive Verantwortliche für Zukunftspolitik in
       jenem Teil der Gesellschaft desavouiert, in den sie als vermeintliche
       Volkspartei der 20er Jahre bereits vorgestoßen waren: der gemäßigten
       Konservativen, die anschlussfähig zu sein schienen an gemäßigt progressive
       Politik. In Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und NRW ist das anders,
       aber das läuft im Moment unter dem mediengesellschaftlichen Radar.
       
       ## Austrittswelle
       
       Nun sind die Grünen-Funktionäre selbstverständlich [1][auch nicht alle im
       21. Jahrhundert angekommen]. Gerade wenn die Umfragewerte sinken, dann
       steigen die Fliehkräfte.
       
       Deshalb ist es schwer zu entscheiden, ob wir Medien die Grünen
       zurückinterpretieren in die Vergangenheit oder ob Funktionäre selbst
       zurückdrängen in die gute, alte Zeit des hochmoralischen Sprechens ohne
       reale Verantwortung für den Westen, Europa, Kriege, Verteidigungsfähigkeit,
       globalen Terror, Wirtschaftswachstum, CO2-Reduktion, Energieversorgung bis
       hin zur menschlichen Zukunft im Vormarsch der künstlichen Intelligenz.
       
       Tatsächlich ist es ganz und gar nicht einfach, den historisch-kulturellen
       Kanon der grünennahen Milieus (Frieden, Menschenrechte, Emanzipation,
       deutsche Schuld) mit der Realität der Gegenwart (Angriffskrieg auf Europa,
       Israel-Palästina, Waffenlieferungen, Flucht, Welthandel) zusammenzubringen.
       Auch viele „Progressiven“ sind heute längst nostalgisch und predigen
       weiterhin vom Fortschritt, der jedoch längst keine Grundlage mehr hat, wenn
       er sie denn je hatte.
       
       Das zentrale Problem dieser Gesellschaft löst dagegen kaum Emotionen aus.
       Es ist das drohende Ende der Gestaltung von Zukunft, also des zentralen
       Versprechens der Moderne und der Aufklärung an den Menschen. Das sollten
       die Grünen in die Regierungen bringen und nun droht ihnen der Verlust der
       Kompetenzzuschreibung dafür.
       
       Das wird evident durch die unterschiedlichen Rezeptionen des mutmaßlichen
       Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Wenn der Vizekanzler differenziert
       vorwärtstastende historisch-kulturelle Reden hält, kriegt er riesige
       Zustimmung dafür, weit über die Parteigänger hinaus. Genauso möchte sich
       ein großer Teil der Mitte in der Welt repräsentiert sehen.
       
       Spricht Habeck aber als Wirtschaftsminister, begleitet ihn Skepsis und
       lösen auch große Erfolge keine vergleichbaren Gefühle aus. Weshalb die
       politischen Gegner ihn stets und erst recht im kommenden Wahlkampf als
       „schlechtester Wirtschaftsminister aller Zeiten“ brandmarken werden. Ihre
       zukunftspolitische Vorstellung reduziert sich auf eine Sache: [2][dass die
       Grünen wegmüssen.]
       
       ## Kollateralschaden der CDU-SPD-Jahre
       
       Ob nun Union und SPD in den langen gemeinsamen Regierungsjahren nicht
       rechtzeitig die Politik änderten, um das Land zukunftsfähig zu machen, weil
       wir Leute das nicht mitgemacht hätten oder ob wir Leute es heute nicht
       mitmachen, weil diese Parteien niemals das Gespräch darüber mit uns
       aufnahmen – das ist Wasser unter der Brücke.
       
       Jedenfalls war es so, dass das lange verdrängte Nichtsprechen und
       Nichthandeln sichtbar wurde in dem Moment, in dem die Grünen Teil der
       Bundesregierung wurden. Solarindustrie abgewickelt, Autoindustrie schwer
       hinterher, [3][Stahlindustrie in Not,] Bundeswehr nur noch eine Attrappe,
       Energieabhängigkeit von einem gefährlichen Feind und so weiter.
       
       Es handelt sich faktisch um einen Kollateralschaden der CDU/SPD-Jahre, in
       der die Idee der Veränderung ohne Veränderung so zentral gemacht wurde,
       dass die Betreiber dieser Illusion nun schlecht sagen können: Leute, das
       haben wir verbockt, sorry. Hier wird sich einiges ändern und das kostet
       auch richtig was.
       
       Wer ansatzweise [4][in Richtung Realität handelt], kriegt es mit allen
       anderen Parteien zu tun. Und wenn Robert Habeck dann gar noch andeutet,
       dass man Dinge hinkriegen kann, rasten Leute vollends aus. Zukunft
       gestalten und hinkriegen? Unverschämtheit.
       
       Aus der Desavouierung von Zukunftspolitik soll eine Desavouierung von
       Zukunft gemacht werden. Zukunft ist schlecht. Von europäischer Zukunft
       schon gar nicht mehr zu reden. Die Deutschen, das ist auch eine Gefahr,
       ziehen sich zurück in das Nationale, und damit meine ich nicht
       Rechtspopulisten. Die Krise der Grünen ist unser aller Krise.
       
       ## Es braucht die Aufbruchsbereiten
       
       Jetzt ist es nicht ausgeschlossen, dass ich selbst auch ein nostalgischer
       Progressiver bin, aber ich denke, es gibt in diesem Land auch
       liberaldemokratische Aufbruchsbereite, ich schätze mal optimistisch
       mindestens 25 Prozent. Das sind Leute, unterstelle ich, die sich ihrer
       Ratlosigkeit ernsthaft stellen, statt einfach immer nur weiterzubrabbeln
       und weiterzudenken wie bisher.
       
       Das ist die Grundlage eines neuen Gesprächs über einen Aufbruch, der –
       Reckwitz weitergedacht – die Bewahrung progressiver Errungenschaften
       sicherstellt und mit den Verlusten einigermaßen konstruktiv umgeht. Es ist
       höchste Zeit, diese Aufbruchsbereiten zu adressieren, sichtbar zu machen
       und zu einem Machtfaktor auszubauen.
       
       Es wird kaum zu verhindern sein, dass die nächste Bundesregierung von der
       Union geführt wird. Das Ziel der Aufbruchsbereiten muss sein: Nicht ohne
       uns.
       
       20 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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