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       # taz.de -- Wahl mit zwei Jahren Verspätung: Ein frischer Windhauch für Irakisch-Kurdistan
       
       > Die Autonome Region Kurdistan im Norden Iraks wählt ein neues Parlament.
       > Eine Reformpartei bekommt zwar viele Stimmen, doch die alten Mächte
       > bleiben.
       
   IMG Bild: Wer im kurdischen Nordirak seine Stimme abgibt, muss seinen Finger in lila Tinte tauchen
       
       Berlin taz | Viele Menschen in den [1][kurdischen Autonomiegebieten im
       Nordirak] haben derzeit lila eingefärbte Fingerkuppen. Denn von Freitag bis
       Sonntag wählte die semi-autonome Region ein neues Parlament. Nach
       vorläufigen Angaben der irakischen Unabhängigen Hohen Wahlkommission (IHEC)
       liegt die Beteiligung bei etwa 72 Prozent.
       
       Die noch nicht offiziell bestätigten Wahlergebnisse sehen nach Angaben des
       Onlinemediums kurdistan24.net die bisher regierende Demokratische Partei
       Kurdistans (KDP) weiterhin ganz vorne: Von 100 Sitzen im Parlament erhält
       sie wohl 39 und [2][verliert damit sechs Sitze im Vergleich zur Wahl von
       2018.] Darauf folgt die ebenfalls regierungsbeteiligte Patriotische Union
       Kurdistans (PUK), mit wohl 23 Sitzen, die damit einen hinzugewinnt. Die
       beiden Parteien teilten seit Entstehung der Autonomieregierung
       Irakisch-Kurdistan 1992 die Macht größtenteils untereinander auf.
       
       Eine Überraschung gibt es aber: Das liberale, oppositionelle Reformbündnis
       „New Generation Movement“ kann 15 Sitze für sich gewinnen. Es steht nach
       eigenen Angaben gegen Korruption, für eine wirtschaftliche und soziale
       Liberalisierung und für Frauenrechte. 2018 zog es mit acht Sitzen erstmals
       ins kurdische Regionalparlament ein.
       
       Das sei ein Zeichen für den Frust vieler Kurdinnen und Kurden mit den alten
       Peshmerga-Parteien, sagt Thomas Schmidinger, Professor an der University of
       Kurdistan Hewler und Experte für die Region, der taz. „Das wichtigste
       Ergebnis ist, dass es überhaupt wieder ein legitimes Parlament gibt“,
       betont Schmidinger.
       
       ## Von fast 1.200 Kandidaten sind 368 weiblich
       
       Die kurdische Autonomieregion hatte seit dem Frühling 2023 kein Parlament
       mehr. Es wurde zum ersten Mal 1992 gewählt – und führte damit kurz nach dem
       Golfkrieg zur De-Facto-Autonomie der Region, die in der irakischen
       Verfassung von 2005 auch rechtlich als solche festgehalten wurde. Das
       Parlament hätte bereits im Jahr 2022 neu gewählt werden sollen. Die letzte
       Wahl davor fand 2018 statt und liegt damit nun sechs statt die vorgesehenen
       vier Jahre zurück. Fünf Mal wurde sie in den vergangenen beiden Jahren
       verschoben.
       
       Der Grund: KDP und PUK konnten keine Einigung über eine Änderung des
       Wahlsystems erzielen. Vor allem darüber, wie mit den Quotensitzen für
       verschiedene Minderheiten umgegangen werden sollte, herrschte Uneinigkeit.
       Im Frühling sprach ein irakisches Gericht schließlich ein Machtwort, als es
       die für Minderheiten [3][– etwa die christliche Bevölkerung –] reservierten
       elf Sitze, die es zusätzlich zu den 100 regulären gab, für
       „verfassungswidrig“ erklärte. Das Parlament wurde auf 100 Sitze begrenzt,
       davon fünf für die Vertreter der Minderheiten.
       
       Von insgesamt 1.191 Kandidaten, davon laut Al-Jazeera 368 Frauen, dürfen
       100 ins Parlament einziehen. Die wählen dann den Sprecher, den Präsidenten
       und den Premierminister der Regionalregierung [4][Kurdistans]. Die Wahl
       beobachten rund 2.000 Mitglieder internationaler Missionen und
       Organisationen. Nach Angaben des Shams Networks for Monitoring Elections
       wurden bereits am Freitag „dutzende Verstöße“ verzeichnet, darunter der
       Versuch der Einflussnahme auf Wählende.
       
       ## Stimmberechtigte im Ausland dürfen nicht mitwählen
       
       Auch dass alle Wahlwilligen sich mit ihrem Ausweis an den Wahlstationen
       persönlich einfinden müssen, sorgt bei im Ausland lebenden Kurdinnen und
       Kurden für Verstimmung. Dass das nicht nur an den technischen
       Möglichkeiten, sondern auch am Willen der regierenden Parteien liege,
       berichtet ein am Foreign Policy Research Insitute in den USA ansässiger
       Politikwissenschaftler dem Onlinemedium rudaw.net. Zehntausende würden
       dadurch ihrer Stimme beraubt.
       
       Um zu wählen, muss außerdem der Fingerabdruck abgegeben werden. Nach
       Angaben von rudaw.net konnten am Freitag die Abdrücke von mindestens 3.000
       Wählerinnen und Wählern nicht ausgelesen werden – und sie damit auch ihr
       Wahlrecht nicht wahrnehmen.
       
       22 Oct 2024
       
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