URI: 
       # taz.de -- Film „The Room Next Door“ von Almodóvar: Die unerträgliche Leichtigkeit des Sterbens
       
       > Martha (Tilda Swinton) möchte selbstbestimmt sterben, mit Beistand einer
       > Freundin. Pedro Almodóvar schafft es, das Sterben schön aussehen zu
       > lassen.
       
   IMG Bild: Farbenfroh aus dem Leben scheiden: Ingrid (Julianne Moore) und Martha (Tilda Swinton)
       
       „Der Tod ist kein Künstler“, soll der französische Schriftsteller Jules
       Renard einmal gesagt haben. Ginge es nach Pedro Almodóvar, wäre er es doch.
       Nach Vorstellung des spanischen Filmemachers wäre er wahrscheinlich einer
       vom Schlage eines Edward Hopper, hätte dieser seine ohnehin sehr
       aufgeräumten Kompositionen bis zur aseptischen Perfektion geschliffen und
       sie in noch saturierteren Farben gemalt.
       
       Denn selten, so viel steht fest, sah das Sterben schöner aus als in Pedro
       Almodóvars erstem englischsprachigen Spielfilm. Nahezu niemals dürfte es so
       säuberlich und so schonend für alle daran Beteiligten vonstattengehen, wie
       in „The Room Next Door“. Sowohl das Lebensende selbst als auch den
       beschwerlichen Weg dorthin stilisiert das bei den [1][diesjährigen
       Filmfestspielen von Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ prämierte Drama] zum
       eleganten Phantasma.
       
       Auf den ersten Blick passt das durchaus zur zentralen Prämisse der
       Erzählung, die aus dem Roman „Was fehlt dir?“ der US-amerikanischen
       Schriftstellerin Sigrid Nunez stammt, den Pedro Almodóvar mit seinem Film
       adaptiert: Hier wie dort steht der Versuch im Fokus, den demütigenden
       Seiten des Scheidens aus dem Leben, den Schmerzen einer unheilbaren
       Krankheit und dem langsamen Siechtum zu entkommen.
       
       Personifiziert wird der feste Wille, dem Schicksal ein Schnippchen zu
       schlagen und selbst über den genauen Zeitpunkt des eigenen Todes zu
       bestimmen, durch die von Tilda Swinton gespielte Martha. Sie ist schwer an
       Gebärmutterhalskrebs erkrankt und entscheidet sich, nachdem ihr Körper
       trotz Chemo- und einer neuartigen Immuntherapie weitere Metastasen gebildet
       hat, die Behandlung abzubrechen und ihrem Leben eigenhändig ein Ende zu
       setzen.
       
       Dafür bittet sie ihre, wiederum von Julianne Moore verkörperte, Freundin
       Ingrid um Beistand. Sie soll sie in ein angemietetes Haus in einem
       idyllischen Waldstück in Neuengland begleiten, wo sie die letzten Wochen
       verbringen möchte, ehe sie eine todbringende Tablette aus dem Darknet
       einnimmt. Wann genau das sein wird, will sie spontan entscheiden. Wenn es
       passiert ist, werde Ingrid dies an der geschlossenen Tür ihres Zimmers
       erkennen.
       
       Selbstwirksamkeit als Grausamkeit
       
       Krebs, führt Martha gegenüber ihrer zunächst zögernden Freundin aus, werde
       zu einem Kampf stilisiert, den es zu gewinnen gilt. Nur indem die Menschen
       die Krankheit zu einem Heldennarrativ verklären, scheinen sie mit ihr
       umgehen zu können. Dies, so rechtfertigt sie schließlich ihre Entscheidung,
       sei ihre Art zu kämpfen. „Der Krebs kriegt mich nicht, wenn ich mich zuerst
       kriege“, sagt sie mit Nachdruck.
       
       Was zunächst wie ein achtbarer erzählerischer Ansatz anmutet, um dem Tod
       wenigstens ein Stück weit seine Gnadenlosigkeit zu entreißen und dem
       Sterben ein tröstendes Moment der Selbstwirksamkeit zu verleihen, verkehrt
       sich zumindest in der filmischen Adaption in eine eigene Form der
       Grausamkeit. Denn Pedro Almodóvars gewohnt überästhetisierte Bildwelten
       wirken im Kontext des Sterbedramas blasiert und bilden einen schmerzhaften
       Kontrast zu einer sich meist doch ganz anders darstellenden Realität.
       
       Vom lichtdurchfluteten New Yorker Luxuskrankenhaus bis zum exklusiven
       Bungalow, in dem Martha schließlich Suizid begehen wird: Niemals fängt die
       Kamera von Eduard Grau etwas anderes als makellos arrangierte Settings
       voller Almodóvar’scher Farbkontraste ein, niemals wagt sie sich hinter die
       Oberfläche aus todschicken Designermöbeln und der perfekt darin, darauf und
       dazu positionierten beiden Hauptfiguren.
       
       ## Gegen den feministischen Geist der Buchvorlage
       
       Dass sich auch die beiden Frauen selbst zu jedem Zeitpunkt in
       formvollendetem Styling durch die Einstellungen bewegen, trägt nicht nur
       weiter zur [2][artifiziellen Atmosphäre in „The Room Next Door“] bei. Auch
       den feministischen Geist der Buchvorlage, die sich in kleinen Vignetten
       kritisch mit dem Druck weiblicher Schönheitsideale auseinandersetzt, führt
       Pedro Almodóvar damit ad absurdum.
       
       Anders als Sigrid Nunez, die taktvoll Ingrids Beobachtungen der
       Ausfallerscheinungen ihrer Freundin mit einfließen lässt, ohne sie oder
       ihre Krankheit dabei unnötig zu dämonisieren, bezweckt die konsequente
       Verweigerung des Films, auch nur Schlaglichter auf Leid oder Verfall zu
       werfen, genau das. Ganz so, als seien Haarausfall, Gewichtsverlust und
       andere sichtbare Symptome ein Stigma, das abzubilden zu schrecklich wäre.
       Oder so, als würde alles, was über ein wenig eingefallene Wangen
       hinausgeht, schlicht die exquisite Szenerie stören.
       
       Als weitaus irritierender als diese abgehoben wirkende Glamourisierung des
       Todes erweist sich allerdings das Gefühl der Belanglosigkeit, das der Film
       ausgerechnet gegenüber dem wahrscheinlich existenziellsten aller Themen
       erzeugt. Letztlich blass bleibende Figuren, deren Gespräche meist im
       Seichten verhaften, verhindern, dass die Adaption je eine wahre Brisanz
       entwickeln kann. Während noch in „Was fehlt dir?“ insbesondere von Ingrid
       ein nahbares Porträt entworfen wird, setzt „The Room Next Door“ auch hier
       starr auf das vermeintlich herrlich Exzentrische und das ach so schön
       Dekadente.
       
       ## Eine sensationshungrige Kriegsreporterin
       
       Durch konstruiert wirkende Expositionsdialoge und manieristische
       Rückblenden zeichnet Pedro Almodóvar eine überdrehte Hintergrundgeschichte
       für Martha, die sich in jungen Jahren trotz Schwangerschaft zunächst von
       ihrem vom Vietnamkrieg traumatisierten Partner löst, später selbst zur
       sensationshungrigen Kriegsreporterin wird und gern mal über die sexuellen
       Beziehungen zwischen männlichen Kollegen im Krisengebiet fantasiert. Dem
       Verhältnis zur fremd gewordenen Tochter (ebenfalls gespielt von Tilda
       Swinton) werden hingegen verwunderlich wenige Worte gewidmet.
       
       Ohnehin drängt sich das Männliche immer wieder seltsam in den Vordergrund:
       Wo Martha bei Sigrid Nunez noch die Nase über Ingrids Expartner Damian
       (John Turturro) rümpfen darf, ersinnt „The Room Next Door“ eine
       unausgegorene gemeinsame sexuelle Vergangenheit der beiden Frauen mit ihm.
       Wo im Roman eine sogar kurze Intimität hervorbringende Vertraulichkeit
       zwischen den Frauen ungestört im Zentrum steht, wird Almodóvars Ingrid zum
       Todeszeitpunkt ihrer Freundin ausgerechnet deswegen nicht im titelgebenden
       „Raum nebenan“ sein, weil sie sich im Geheimen mit Damian trifft.
       
       Selbstredend bemisst sich die Qualität eines Filmes nicht zuerst daran, wie
       treu er seiner Vorlage bleibt. Die Tatsache, dass „The Room Next Door“ das
       Potenzial des Materials ungenutzt lässt, ihm aber nichts Eigenes
       hinzuzufügen hat, das eine gewisse Dringlichkeit entwickelt, ist nichts
       anderes denn eine verpasste Chance. Umso mehr, als dass mit Pedro
       Almodóvar ausgerechnet ein Filmemacher, der sein Ideal einer Geschichte
       einmal als „eine Frau, die sich in einer Krise befindet“ beschrieb, in
       seiner Adaption das Augenmerk von weiblichen Perspektiven abwendet.
       
       ## Rosarot leuchtende Flocken vom Himmel
       
       Statt der bereichernden Ausführungen von Simone Weil, Ingeborg Bachmann und
       anderen Autorinnen und Philosophinnen, die noch den Roman durchziehen und
       ihm eine latente emanzipatorische Kraft verleihen, referiert „The Room Next
       Door“ wiederholt theatrale Motive aus James Joyce’ Novelle „Die Toten“.
       
       „Langsam schwand seine Seele, als er den Schnee leise durch das Universum
       fallen hörte, leise herabfallen hörte wie das Nahen ihrer letzten Stunde,
       auf alle Lebendigen und Toten“, zitiert Martha mehrmals daraus. Einmal, als
       sie im Krankenhaus liegt und rosarot leuchtende Flocken vor dem Fenster
       fallen, später als sie an der Seite ihrer Freundin die Verfilmung der
       Novelle durch John Huston ansieht. Schließlich wird der besagte Schnee
       erneut vom Himmel wehen, nachdem sie gestorben ist.
       
       Es ist eine gekünstelte Allegorie, aber sie passt zu einem Film, der das
       Sterben als ästhetisches Erlebnis inszeniert und wahres menschliches
       Empfinden, die Trauer und die Verzweiflung ebenso unberührt lässt wie die
       Hoffnung. In „The Room Next Door“ tritt der Tod tatsächlich als Künstler in
       Erscheinung, als penibel planender Perfektionist. Das echte Leben in seiner
       schlichten Unvollkommenheit drängt er in den Hintergrund.
       
       22 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Pedro-Almodovar-gewinnt-Goldenen-Loewen/!6032493
   DIR [2] /Pedro-Almodovars-The-Room-Next-Door/!6031206
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Arabella Wintermayr
       
       ## TAGS
       
   DIR Pedro Almodóvar
   DIR Tilda Swinton
   DIR Sterben
   DIR Krankheit
   DIR Beihilfe zum Suizid
   DIR Suizid
   DIR Filmkritik
   DIR Serien-Guide
   DIR Regisseur
   DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
   DIR Kolumne Lidokino
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Spanische Serie „La Mesías“ auf Arte: Die Heilige und ihre Familie
       
       Das Arte-Familiendrama „La Mesías“ erzählt von einer gescheiterten Frau
       über drei Jahrzehnte, Perversion des Glaubens und Leben mit seelischen
       Wunden.
       
   DIR Pedro Almodóvar wird 75: Vom Schmuddelkind zum Kinokünstler
       
       Er ist der einzige der großen schwulen Regisseure seiner Generation, der
       weiter Filme dreht. Pedro Almodóvar wird 75 Jahre alt.
       
   DIR Pedro Almodóvar gewinnt Goldenen Löwen: Im Zweifel für Bewährtes
       
       Solide Wahl in einem Jahrgang mit wenigen Höhepunkten: Die 81.
       Filmfestspiele von Venedig enden mit dem Goldenen Löwen für Altmeister
       Pedro Almodóvar.
       
   DIR Pedro Almodóvars „The Room Next Door“: Die Ordnung des Todes
       
       In Venedig zeigt Pedro Almodóvar Tilda Swinton und Julianne Moore in
       perfekt abgestimmten Farben. Sie bereiten sich gemeinsam auf das Ende vor.