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       # taz.de -- Autorin Nino Haratischwili über Georgien: „Wir dürfen nicht müde werden“
       
       > Vor der Wahl in Georgien bittet Schriftstellerin Nino Haratischwili
       > Europa, die Opposition zu unterstützen. Die Abkehr von Russland hat ihren
       > Preis.
       
   IMG Bild: Eine Demonstration gegen das Gesetz über „ausländische Einflussnahme“ am 28. Mai 2024 in Tiflis
       
       taz: Frau Haratischwili, in diesem Jahr verabschiedete Georgiens Parlament
       zwei umstrittene Gesetze nach russischem Vorbild: Eines über „ausländische
       Einflussnahme“ und eines zum [1][Verbot von „LGBT-Propaganda“]. Am 26.
       Oktober wählt Georgien ein neues Parlament. Was erwarten Sie von den
       Neuwahlen? 
       
       Nino Haratischwili: Die Proteste gegen die Regierung werden weniger. Aber
       wir dürfen nicht müde werden. Darauf hofft die Regierung. Die
       Georgier:innen im Land und in der Diaspora dürfen nicht dem Nihilismus
       verfallen. Den spüre ich manchmal selbst. Dann denke ich: Oh Gott, ich kann
       nicht mehr, ich habe keine Kraft und keinen Glauben mehr. Aber gegen diese
       Stimmung muss man ankämpfen. Und wir müssen in Europa um Unterstützung in
       diesem Kampf bitten.
       
       taz: Was meinen Sie mit Unterstützung? 
       
       Haratischwili: Sanktionen. Reiseverbot für Politiker, die diese Gesetze
       verabschiedet haben. Sperrung von Konten. Mittlerweile bin ich da rigoros.
       Es gibt zum Glück schon einige Sanktionen, vor allem seitens der USA. In
       Deutschland ist es da mit Sanktionen nicht so einfach, die müssen mit der
       EU abgestimmt werden, um sie zu verhängen.
       
       taz: Wie sehen Sie die Chancen der Opposition bei den kommenden Wahlen? 
       
       Haratischwili: Es bleibt oft das Gefühl, sich zwischen schlecht und noch
       schlechter entscheiden zu müssen. Es muss Alternativen geben. Die
       Oppositionskräfte müssen versuchen, ein Bündnis zu bilden. Viele
       Gruppierungen werden an der Fünfprozenthürde scheitern, wenn sie alleine
       antreten. Aber gemeinsam hätten sie sogar die Chance, eine neue Regierung
       zu bilden.
       
       taz: In den ersten Jahren der Unabhängigkeit von der Sowjetunion kam es zu
       bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Georgien. Könnten nach den Wahlen erneut
       Unruhen drohen, wenn die jetzige Regierung an der Macht bleibt? 
       
       Haratischwili: Wir leben heute in etwas anderen Zeiten. Bisher sind alle
       Demonstrationen einigermaßen friedlich verlaufen. Aber ich schließe nichts
       aus. Ich kann mir momentan alles vorstellen, auch das Schrecklichste. Denn
       was in Georgien in diesem Jahr passiert ist, habe ich auch für unmöglich
       gehalten.
       
       taz: In Ihren Romanen schreiben Sie über das sowjetische und das
       unabhängige Georgien. Immer wieder geht es um Menschen, die ihr Leben für
       die Freiheit aufs Spiel setzen. Erkennen Sie Parallelen im heutigen
       Georgien? 
       
       Haratischwili: [2][Das Buch „Das achte Leben (Für Brilka)“] habe ich vor
       zehn Jahren geschrieben. Es endet mit einer Szene, in der die Polizei zum
       Parlamentsgebäude marschiert und gegen Demonstranten vorgeht. So etwas
       passiert heute, in Tbilisi. Bürger:innen werden unterdrückt. Ich hätte
       mir nicht träumen lassen, dass Georgien nicht vorwärts, sondern rückwärts
       geht.
       
       taz: Was macht Ihnen Hoffnung? 
       
       Haratischwili: Früher haben wir hinter einem Eisernen Vorhang gelebt. Es
       gab keinen freien Zugang zu Informationen. Wir waren von der Welt
       abgeschnitten. Heute ist das anders. Die Menschen können verreisen, solange
       sie es sich leisten können. Sie können googeln, sich informieren. Sie
       sprechen meistens auch eine weitere Sprache außer ihrer Muttersprache. All
       das macht sie weniger korrumpierbar. Die Menschen stehen für ihre Rechte
       und für ihre Überzeugung ein. Das gibt mir Hoffnung.
       
       taz: Russland sieht es nicht gerne, wenn sich seine Nachbarn ab- und dem
       Westen zuwenden. Droht Georgien das gleiche Schicksal wie der Ukraine, wenn
       es an seiner Annäherung an die EU festhält? 
       
       Haratischwili: Ich kann keine Prognosen abgeben, weil ich – wie die meisten
       von uns – nicht weiß, was alles im Hintergrund passiert, welche Absprachen
       stattgefunden haben. Ich habe keine Ahnung, warum unsere Regierung
       ausgerechnet jetzt mit diesen Gesetzesänderungen kommt. Ich hoffe einfach,
       dass die Wahlen im Oktober uns die nötigen Veränderungen bringen. Dass
       Russland für alle westlich orientierten Nachbarstaaten ein Problem
       darstellt, ist ja jetzt nichts Neues. Wir haben eine sehr lange und sehr
       blutige Geschichte mit diesem Land und es ist sehr bedrückend, dass uns die
       Ablösung so teuer zu stehen kommt. Aber das hat Georgien nie daran
       gehindert, seinen Platz in der europäischen Familie zu sehen und gen Westen
       zu streben. Und diesen Kurs will der Großteil der Bevölkerung auch
       beibehalten.
       
       taz: Die Europäische Union hat Ende Juni den Beitrittsprozess für Georgien
       auf Eis gelegt. Was halten Sie davon? 
       
       Haratischwili: Das war abzusehen. Und es deprimiert mich, dass so viel
       Mühe, so viel jahrelange Arbeit, so viel Engagement seitens der
       Zivilgesellschaft vorerst gestoppt wurde. Aber ich bleibe zuversichtlich
       und hoffe, dass der Prozess wieder aufgenommen wird, sobald der
       Regierungswechsel stattfindet. Und das scheint mir unausweichlich nach all
       den Entwicklungen der letzten Jahre und Monate.
       
       taz: Wurden ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien oder die Ukraine in
       ihren Autonomiebestrebungen zu lange allein gelassen? 
       
       Haratischwili: Wissen Sie, der Westen hat den Osten nie richtig ernst
       genommen. In Brüssel oder in Berlin hat man lange Zeit nicht auf die
       Stimmen aus Ländern gehört, die bittere Erfahrungen mit Russland gemacht
       haben. Das Narrativ und die Perspektive des Ostens waren immer weniger wert
       als das Narrativ und die Perspektive des Westens. Durch Russlands Krieg in
       der Ukraine hat sich das geändert. Der Westen hat endlich seine
       Scheuklappen in Richtung Osteuropa abgelegt.
       
       11 Oct 2024
       
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