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       # taz.de -- Alternative Kulturen: Schön machtlos
       
       > Der Philosoph Daniel Loick feiert in seinem neuen Buch die
       > Nichtherrschaft der Unterdrückten. Doch was ist, wenn diese kippt?
       
   IMG Bild: „Überlegenheit der Unterlegenen“: für Asterix und Obelix nix Neues
       
       Daniel Loick ist kein Liberaler. Im Gegensatz zu den meisten Vertretern der
       von Jürgen Habermas und Axel Honneth geprägten zweiten und dritten
       Generation der [1][Frankfurter Schule] verteidigt er weder den Rechtsstaat
       noch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Normen. Stattdessen verteidigt er
       all jene, die von diesen Institutionen unterdrückt werden. Die Stimme der
       [2][Unterdrückten] soll aber nicht nur gehört werden, sie soll als die
       schönste und moralischste lauter erklingen als alle anderen.
       
       Loicks neues Buch, die „Überlegenheit der Unterlegenen“, ist der Versuch,
       die Vorteile, die Mitglieder organisierter unterdrückter Gruppen gegenüber
       dem Mainstream haben, philosophisch zu untermauern. Auf knapp dreihundert
       Seiten argumentiert der in Amsterdam lehrende Philosoph, warum sie nicht
       nur objektiv besseres Wissen und bessere Normen, sondern auch eine bessere
       Ästhetik und bessere Gefühle haben als die Angepassten.
       
       Mit dem Appell, Praktiken und Wissensbestände der Unterdrückten ernst zu
       nehmen, reiht sich Loick, der zuletzt einen dicken Sammelband über
       Abolitionismus herausgegeben hat, in eine Tradition ein, die mindestens bis
       zu den feministischen und antirassistischen Bewegungen der 1960er Jahre
       zurückgeht.
       
       ## Traum von einer anderen Welt
       
       Obwohl Loicks Ton eher resigniert ist, scheint dabei ein anarchistischer
       Optimismus über die Gestaltbarkeit der sozialen Wirklichkeit durch. Bezug
       nehmend auf aktuelle soziale Bewegungen erinnert er daran, dass unter dem
       Beton, in den die kapitalistische Ordnung gegossen ist, längst der Traum
       einer anderen Welt geträumt wird.
       
       Was heißt hier eigentlich besser? Mit Foucault, der natürlich auch
       vorkommt, könnte man sich allerdings fragen, wer die Unterlegenen
       eigentlich sind. Zwar betont Loick immer wieder, dass es nicht so einfach
       ist, die Welt in „Gute“ und „Böse“ aufzuteilen (weil die Guten manchmal
       böse und die Bösen manchmal gut sind), aber das hindert ihn nicht daran, es
       selbst zu tun. Die noch entscheidendere Frage ist natürlich, welcher
       universell gültige Maßstab darüber bestimmen soll, welche Gefühle besser,
       welche Praktiken schöner sind.
       
       Die historischen und anthropologischen Kriterien, auf die sich zum Beispiel
       [3][Honneth] beruft, schließt Loick aus. Sein eigenes, eher anarchistisches
       Argument läuft darauf hinaus, dass „Gegengemeinschaften“ deshalb überlegen
       sind, weil sie grundsätzlich offener sind als der Mainstream. Die Normen
       unterdrückter Gruppen sind also objektiv besser als die herrschenden, weil
       sie nicht herrschen wollen. Die Überlegenheit der Beherrschten besteht
       darin, jede Herrschaft abzulehnen.
       
       ## Rigorose Normen
       
       Leider bleibt Loicks eigener Maßstab erstaunlich unterbeleuchtet. Die
       konstitutive Offenheit gegengemeinschaftlicher Normen wird kaum diskutiert.
       Und ihrer größten Herausforderung stellt sich der Autor gar nicht: So
       schließt Loick schon per Definition aus, dass Normen der Unterdrückten
       selbst in Herrschaft umschlagen.
       
       Aber wie kann er sich da so sicher sein? Sind Gegengemeinschaften denn
       wirklich immer so offen? Können ihre Normen nicht genauso rigoros sein wie
       die des Durchschnittsspießers? Kann das Ideal der Polygamie nicht genauso
       zwanghaft werden wie das der Ehe, der Druck, vegetarisch zu leben oder pro
       Palästina zu sein, nicht genauso unerbittlich wie das Gegenteil?
       
       So radikal, wie er sich gibt, ist Loick dann vielleicht gar nicht. In
       Wirklichkeit setzt er der Sittlichkeit seines ehemaligen Lehrers Honneth
       nur eine andere Sittlichkeit entgegen und dem einen Universalismus einen
       anderen. Zwar will er im Gegensatz zu Hegel und Honneth an die Stelle der
       herrschenden Moral eine andere Moral setzen, herrschen soll diese aber nach
       wie vor. Wieso sonst muss vorab geklärt werden, dass sie objektiv überlegen
       ist? Foucault hätte man beim Lesen vielleicht seine berühmte Warnung
       murmeln hören: „Verliebe dich nicht in die Macht!“
       
       11 Dec 2024
       
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