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       # taz.de -- O'Neill-Stück am Staatstheater Nürnberg: Zoom auf Mary
       
       > „Eines langen Tages Reise“ nach Eugene O’Neill findet am Staatstheater
       > Nürnberg eine zeitgemäße, auf Musik fokussierte Inszenierung von Rieke
       > Süßkow.
       
   IMG Bild: Teils ähnelt der Abend einem expressionistischen Stummfilm, aber die dreistöckige Drehbühnen-Etagère spielt selbstbewusst mit
       
       „Hallo?“, sagt die Mutter, erst fragend, schließlich verärgert, denn
       niemand reagiert. Mann und Söhne sind mit sich selbst beschäftigt. Mit
       Trunksucht und dem American Dream vom sozialen Aufstieg, an dem die Familie
       Tyrone zerschellt. 1956 hat Eugene O’Neill „Eines langen Tages Reise in die
       Nacht“ geschrieben. Das Stück, das dieses Zerschellen zu einem Tag
       komprimiert.
       
       Auf der Bühne dauert das gewöhnlich drei Stunden. Rieke Süßkows
       Inszenierung am Theater Nürnberg braucht nur eineinviertel. Das „Hallo!“
       von Mary Tyrone kommt von einer Geige, während Schauspielerin Stephanie
       Leue nur die Lippen bewegt. „Instrumentalversion“ nennt die Regisseurin
       ihren Abend.
       
       [1][Wer Süßkow kennt, weiß, dass sie keine Kompromisse macht.] Sie hat eine
       Idee und setzt diese mit aller Konsequenz um. [2][Zweimal wurde die
       34-Jährige schon zum Berliner Theatertreffen] eingeladen. Ihre aktuelle
       Frage: Kann man die Geschichte der Tyrones mit Musik erzählen? [3][Zweifel
       sind angebracht, denn es stimmt zwar, dass die vier Hauptfiguren viel
       reden, ohne etwas zu sagen.]
       
       ## Radikale Verknappung
       
       [4][Aber ihr wortreiches Kommunikationsversagen hat ein Meister des
       psychologischen Theaters notiert.] Der Transfer klappt dennoch erstaunlich
       gut. Gerade weil sich Süßkow von allem trennt, was am Stück seiner Zeit
       verhaftetes Gesellschaftsporträt ist. Sie ändert radikal den Fokus und
       zoomt auf Mary, die nach der Heirat mit dem angehenden Schauspieler James
       eigene Ambitionen ad acta gelegt hat und seit dem Tod eines dritten Kindes
       depressiv und morphiumsüchtig ist.
       
       In Nürnberg setzt Marys Stimmung den Grundton; ja ihre sich mehr und mehr
       verzerrende Weltwahrnehmung ist überhaupt erst der Grund für das formale
       Experiment. Stimmung, Stimme, die Gestimmtheit des Instrumentes, emotionale
       und musikalische Misstöne: Es gibt eine Verwandtschaft.
       
       Und die wird in der engmaschig und sensibel mit den Aktionen der
       Schauspieler*innen abgestimmten Komposition von Philipp C. Mayer
       evident. Jede Figur hat ein musikalisches Alter Ego. Wenn Mary den Mund
       bewegt, tritt die Geige in Aktion, bei dem im Männlichkeitskorsett
       steckenden James ist es das Cello, für die Söhne sprechen Klarinette und
       Posaune.
       
       ## Schmeicheln oder nerven
       
       Die Instrumente können mit Engelszungen schmeichelnd direkt den Weg ins
       Herz finden, an den Nerven sägen, aber auch husten, kichern, schnarchen,
       die Flugbahn eines Bolzens beschreiben und in heller Verzweiflung schreien.
       Auch wer das Stück nicht kennt, versteht, was hier emotional abgeht. Für
       den Rest gibt es Mimik, Gestik und sprechende Ausstattungsdetails.
       
       Gleich zu Anfang legt Mary einen kleinen Teddy auf einen
       Kunstrasen-Grabhügel; im Finale, in dem sich alle Instrumente zum
       dissonanten Crescendo vereinen, reißt einer der Söhne diesem Bären wieder
       und wieder den Kopf ab. Der Vater hält sich abwechselnd an einer Rose oder
       einem Rasenmäher fest, und schließlich erstarrt das Familienbild, weil aus
       Marys Perspektive nur noch der nächste Schuss zählt.
       
       Teils ähnelt der Abend einem expressionistischen Stummfilm, aber Mirjam
       Stängls dreistöckige Drehbühnen-Etagère spielt selbstbewusst mit. Zu Beginn
       ist sie komplett unter dem riesigen Rock von Geigerin Ekaterina
       Zeynetdinova verborgen (Kostüme: Sabrina Bosshard) und Mary muss Mitspieler
       und Ausstattungsgegenstände ihres Lebens erst vom sahneweißen Stoff
       befreien. Ganz weit oben thront ein Tisch mit Stühlen, an dem die Familie
       nie zusammenkommt.
       
       Und von da beginnt das Gerüst bedenklich zu wackeln, bis die Instabilität
       die untere Etage ergreift, von der aus man nur noch ins Nichts springen
       kann.
       
       15 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Leucht
       
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