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       # taz.de -- Krieg in Gaza: Die nackte Angst vor der letzten Nacht
       
       > Einst bot die Nacht unserem Autoren aus Gaza Momente des Friedens. Doch
       > vor einem Jahr haben sich die dunklen Stunden in einen Alptraum
       > verwandelt.
       
   IMG Bild: Israelischer Angriff auf einen Zeltbereich im Hof des Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhauses in Gaza am 14.10.2024
       
       Wenn ein Kind geboren wird, entscheidet das Leben, wie lange es leben und
       wie viele Nächte es schlafen wird. Das habe ich seit meiner Jugend
       geglaubt. Doch in dem Vernichtungskrieg, in dem wir leben, [1][ändern sich
       alle Bedeutungen.] Dinge, die ich am meisten geliebt habe, sind zu einer
       brennenden Hölle geworden, aus der es keinen Ausweg gibt.
       
       Einst symbolisierte die Nacht Frieden, Ruhe und Kontemplation. Jeden Abend
       saßen wir mit unserer Tochter Ellen auf dem Dach des Hauses und
       betrachteten den Sternenhimmel, in dessen Mitte ein großer Mond stand.
       Ellen schlief langsam ein, dann gingen wir hinunter, legten sie in ihr Bett
       und schliefen in der Dunkelheit der friedlichen Nacht.
       
       Ich erinnere mich gut daran, wie ruhig und klar die letzte Nacht vor
       [2][Kriegsbeginn] war. Ich sprach mit meiner Frau über die Zukunft, über
       die Beantragung der ägyptischen Staatsbürgerschaft, über Reisen, das neue
       Gehalt und wie viel wir davon sparen könnten.
       
       Am Morgen wurden wir von verdächtigen Geräuschen geweckt. In den ersten
       Momenten des Morgens war uns nicht klar, dass es die letzte Nacht war, in
       der wir gut schlafen würden und wir in einer anderen Realität aufwachen
       würden.
       
       ## Das Geräusch von explodierenden Ballons
       
       Wir verfolgten sofort die Nachrichtenkanäle und wussten, dass das, was auf
       uns zukam, nur als Verwüstung bezeichnet werden konnte. Wann immer meine
       Tochter mich nach den Explosionen fragte, während sie vor Angst zitterte,
       umarmte ich sie schnell und sagte: „Hab keine Angst, meine Tochter, das ist
       das Geräusch von Luftballons, die explodieren, wie die, mit denen du gerne
       spielst.“
       
       Die ewige Ruhe und Abgeschiedenheit der Nacht sind zu einem lebendigen
       Albtraum geworden und haben sich in einen Kampf mit Angst und Beklemmung
       verwandelt. Der Wunsch nach Schlaf ist übermächtig. Denn schlafen – wer
       kann das schon noch?
       
       Die Geräusche der Bombardierung wecken uns immer wieder auf. Und so fingen
       wir an zu beten: Dass die Sonne in der Mitte des Himmels stehenbleiben,
       dass die Nacht niemals kommen möge. Jedes Kind fürchtet, dass dies seine
       letzte Nacht sein könnte, und so beschlossen die Kinder, weder Tag noch
       Nacht zu schlafen, damit ihr Leben nicht verkürzt würde.
       
       „Aber es gibt Kinder, die gestorben sind“, sagte meine Frau nach einigen
       Monaten des Krieges: „Was ist deine Erklärung?“ Ich antwortete: „Sie waren
       des Aufwachens müde.“ Jeder von ihnen machte ein kurzes Nickerchen, ohne
       Kontrolle über seinen Körper, sodass sich der Tod einschlich, um sie zu
       entführen und ihrem Leben und Leiden ein Ende zu setzen.
       
       ## Ohne Angst schlafen
       
       Ellen kämpft immer noch gegen die Nacht und ihre Angst. Und immer wenn sie
       Bomben hört, sagt sie: „Habt keine Angst … Das ist ein großer Ballon und
       sein Geräusch ist laut, nicht wahr, Papa?“
       
       „Das ist richtig, Baba“, sage ich dann: „Wenn die Geräusche der
       explodierenden [3][Ballons] verstummt sind, werden wir wieder auf das Dach
       gehen und den Mond und die Sterne betrachten und ohne Angst und Sorgen
       schlafen.“
       
       In einer dieser Nächte schwiegen wir lange, bevor eine schwere Träne aus
       meinen Augen trat. Ich hielt die Hand meiner Tochter und sagte: „Oh Herr,
       Vater … Oh Herr.“ Dann schliefen wir zittrig ein und fielen in einen Schlaf
       voller Wachsamkeit und Unruhe.
       
       Muhammad Ghoneim ist Schriftsteller und Komponist aus Gaza. Für seine
       Kurzgeschichtensammlung „Beyond the Mirrors“ (Jenseits der Spiegel) wurde
       er mit dem First Book Award der A. M. Qattan Foundation ausgezeichnet. Er
       erhielt außerdem den Najati Sidqi Award. 
       
       Internationale Journalist*innen können seit rund einem Jahr nicht in
       den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im [4][„Gaza-Tagebuch“]
       holen wir Stimmen von vor Ort ein.
       
       14 Oct 2024
       
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