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       # taz.de -- Deutschlands Innen- und Außenpolitik: Feminismus als Fremdwort
       
       > Das deutsche Engagement in der Ukraine und im Nahen Osten zeigt: Die
       > feministische Außenpolitik ist eine Lüge – und im Innern sieht es kaum
       > besser aus.
       
   IMG Bild: Laut UN sind 70 Prozent der Opfer in Gaza Frauen und Kinder: Eine Frau trauert nach einem israelischen Luftschlag am 9. November
       
       Neulich verkündete Außenministerin Baerbock, dass [1][zivile Orte im
       Gazastreifen ihren Schutzstatus verlieren können], wenn diese von
       Terroristen missbraucht würden – und empörte damit alle, die sich weltweit
       für die Integration feministischer Ideale in die internationale Politik
       eingesetzt haben: Ausgerechnet Baerbock, die Hauptarchitektin der
       „feministischen Außenpolitik“ in Deutschland, äußert sich so.
       
       Sie zerstörte so jede Hoffnung auf Feminismus als integrative,
       transnationale und transformative Ideologie. Stattdessen verbreiteten sich
       ihre Kommentare in den sozialen Medien als weiteres Beispiel für den
       westlichen Überlegenheitsanspruch und die Heuchelei darüber, welches Leben
       wichtig ist und welches nicht.
       
       Die Doppelmoral in der Reaktion auf die Kriege in der Ukraine und im Nahen
       Osten sind unbestreitbar. Nachdem die Koalition aus Grünen, Liberalen und
       Sozialdemokraten eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik
       beschlossen hatte, brach sie nach Russlands Angriff auf die Ukraine ihre
       feministische Zusage, der Abrüstung Priorität einzuräumen.
       
       Trotz einer engen Handelspartnerschaft mit Russland scheint man sich wenig
       bis gar nicht um eine robuste diplomatische Alternative bemüht zu haben.
       Stattdessen hat Deutschland zusammen mit dem Rest der Nato die
       Waffenproduktion und die militärische Aufrüstung hochgefahren und der
       Ukraine fast 34 Milliarden Euro an Militärhilfe zur Verfügung gestellt,
       zusätzlich zur Aufnahme von über einer Million Geflüchteten. Baerbock
       erklärte derweil, dass dies nicht im Widerspruch zu einer feministischen
       Außenpolitik stehe, da ukrainische Frauen selber Waffen forderten, um sich
       zu verteidigen.
       
       ## Waffen für Kriegsverbrechen
       
       Ein Jahr später, am 7. Oktober, wurden bei palästinensisch-angeführten
       Guerillaattacken auf israelische Dörfer und Militäreinrichtungen mehr als
       1.100 Israelis getötet und über 200 Geiseln genommen. Die Mehrheit der
       Palästinenser und viele Menschen im Globalen Süden betrachten dies als
       Widerstand gegen die Kolonisierung und das Apartheidregime, das ihnen seit
       1948 vom Staat Israel aufgezwungen wird.
       
       Es gibt schwere Anschuldigungen, dass sowohl israelische als auch
       palästinensische Frauen grausame Gewalt erfahren hätten. Dazu gehören
       Vorwürfe sexueller Übergriffe und die Vergewaltigung israelischer Frauen
       während der Hamas-Angriffe sowie Gegenanschuldigungen, palästinensische
       Geiseln in israelischen Gefängnissen hätten ebenfalls sexualisierte Gewalt
       erlitten.
       
       Israel reagierte auf den Angriff vom 7. Oktober 2023 mit einem Einmarsch in
       den Gazastreifen, der seit über einem Jahr unvermindert anhält und derzeit
       von internationalen Gerichten auf genozidale Absichten geprüft wird. Er
       führte zur Zerstörung des Gazastreifens, zu extremer Gewalt im
       Westjordanland und zum Mord an über 40.000 Menschen, [2][von denen etwa 70
       Prozent Frauen und Kinder sind.]
       
       Wie hat die deutsche Regierung darauf reagiert? Sie hat ihre Waffenexporte
       an Israel seit August massiv erhöht – [3][auf knapp 110 Millionen Euro].
       Und wie würde eine Regierung mit einer genuinen feministischen Außenpolitik
       reagieren? Sie würde nicht nur sexualisierte Gewalt bei allen
       Konfliktparteien verurteilen und die Freilassung aller Geiseln fordern,
       sondern auch ein Ende der Besatzung, der kolonialen Enteignung und einen
       sofortigen Waffenstillstand fordern, um Leben zu retten.
       
       ## Misstrauen bei Frauenbewegungen weltweit
       
       In meiner Forschung untersuchte ich, was eine feministische Außenpolitik
       für ein Land selbst, seine Beziehungen zu anderen Ländern und seine
       Fähigkeit, sich mit der progressiven Zivilgesellschaft auf der ganzen Welt
       zu solidarisieren, bedeutet.
       
       Während Länder wie Schweden, Kanada und die Niederlande die ersten waren,
       die eine feministische Außenpolitik verfolgten, schlossen sich ihnen
       mittlerweile unter anderem Mexiko, Chile und Kolumbien an, die jedoch
       bisher herrschende Grundannahmen und Denkweisen infrage stellen.
       
       Die Situation in Gaza hat die tiefen Widersprüche der deutschen
       feministischen Außenpolitik offengelegt und eine glaubwürdige
       Positionierung von staatlich finanzierten gemeinnützigen Organisationen,
       [4][wie dem Center for Feminist Foreign Policy (CFFP)] erschwert. Denn
       keine Regierung kann behaupten, sie wolle „Gewalt gegen Frauen“ beenden,
       während sie weiterhin weltweit Kriege finanziert und ganze Gesellschaften
       aufrüstet. Und dies in einer Zeit, in der ein Backlash bereits die
       Frauenrechte in vielen Ländern bedroht.
       
       Die Unterstützung der deutschen Regierung für Israel hat nun weltweite
       Frauenbewegungen, die dringend finanzielle Mittel benötigen, misstrauisch
       gemacht, dass der Begriff „feministisch“ instrumentalisiert wird, um eine
       westliche, auf Rassismus basierende Agenda durchzusetzen.
       
       ## Außen wie innen: Feminismus bleibt auf der Strecke
       
       Politische Kommentatoren stellen bereits seit langem fest, dass die
       Außenpolitik eines Landes eine Fortsetzung der Innenpolitik ist. Und just
       an diesem Donnerstag wurde eine Antisemitismus-Resolution im Bundestag
       verabschiedet, die auf der umstrittenen IHRA-Definition (International
       Holocaust Remembrance Alliance) basiert, die „Jüdisches Leben in
       Deutschland schützen, bewahren und stärken“ soll. Doch die umstrittene
       IHRA-Definition wird häufig so ausgelegt, dass auch [5][Kritik an der
       israelischen Regierung als Antisemitismus gilt].
       
       Das ist kontraproduktiv für den gesellschaftlichen Frieden in einem von
       Immigration geprägten Land, denn Minderheiten können nicht geschützt
       werden, [6][wenn sie gegeneinander ausgespielt werden]. Eine
       Zivilgesellschaft, die konstruktiv auf Basis demokratischer Werte streiten
       kann, sich vernetzt und vom Staat dafür gefördert wird, [7][wäre der beste
       Schutz] und die Garantie für ein „Nie Wieder“ in Deutschland.
       
       Wir wissen aus vielen Ländern, dass Anti-Demokraten immer als Erstes die
       Rechte von Frauen einschränken, daher ist die Unterstützung von
       anti-demokratischer Politik immer auch eine Unterstützung von
       frauenfeindlicher Politik. Zuletzt erinnere ich hier an das Herzstück der
       feministischen Außenpolitik: Die [8][menschliche Sicherheit], die durch
       Gleichberechtigung und Chancengleichheit erreicht wird und nicht durch eine
       Politik der gesellschaftlichen Spaltung, des Hasses und der Aufrüstung, die
       unweigerlich zu mehr Krieg, mehr Gewalt und zu weniger Grundrechten
       insbesondere für Frauen führt.
       
       ## Abtreibungen, Frauenhäuser, Berufsleben
       
       Und gerade deswegen ist es so enttäuschend, dass die
       Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland selbst innenpolitisch ein leeres
       Versprechen bleibt. Schwangerschaftsabbrüche sind formal illegal, und bis
       2022 konnten Ärzte und Ärztinnen sogar mit einer Geldstrafe belegt werden,
       wenn sie diese öffentlich anbieten. Deutschland ist neben Ungarn eines von
       zwei EU-Ländern, das die Pflichtberatung vor einem straffreien
       Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche verlangt. Kristina Hänel wies
       darauf hin, dass der Zugang für alle eine Herausforderung bleibt.
       Insbesondere für geflüchtete Frauen und jene, die wenig Deutsch sprechen,
       aber auch für Überlebende einer Vergewaltigung, ist eine Abtreibung oft
       unerreichbar.
       
       Es fehlen weiterhin mindestens 14.000 Frauenhausplätze, um Frauen und
       Kindern Schutz vor gewalttätigen Partnern zu bieten und der Entwicklung
       Rechnung zu tragen, dass in den letzten 5 Jahren, laut Bundeskriminalamt,
       die häusliche Gewalt um 20 Prozent gestiegen ist. Auch sehen sich Frauen
       mit Hindernissen im Berufsleben konfrontiert, die ihre
       Vollzeitbeschäftigung nicht unterstützt, keine ausreichende Kinderbetreuung
       bietet und dafür sorgt, dass sehr viele in der Altersarmut landen.
       
       In meinen Gesprächen mit Beamten des Auswärtigen Amts räumten viele ein,
       dass es einfacher ist, sich „da draußen“ für den Feminismus einzusetzen,
       als mit der zutiefst konservativen Gesellschaft zu Hause. Dazu gehört auch
       das Wiedererstarken rechter Parteien und die staatliche Kontrolle (der
       Bundesländer) über Themen, die das Leben von Frauen betreffen.
       
       Es bleibt ein Kampf, Geschlechtergerechtigkeit auf der ganzen Welt zu
       verwirklichen. Aber solange Deutschland es nicht schafft, sich für die
       Rechte von Frauen innerhalb seiner eigenen Grenzen und in allen Teilen der
       Welt gleich einzusetzen, wird Feminismus ein Fremdwort bleiben und
       Deutschland als internationaler Player, unglaubwürdig.
       
       9 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-der-bundesministerin-des-auswaertigen-annalena-baerbock--2314632
   DIR [2] https://www.deutschlandfunk.de/uno-analyse-70-prozent-der-toten-sind-frauen-und-kinder-100.html
   DIR [3] https://www.tagesschau.de/inland/ruestungsexporte-deutschland-israel-100.html
   DIR [4] /Konflikt-um-feministische-Aussenpolitik/!6042920
   DIR [5] /Antisemitismus-Resolution-im-Bundestag/!6047369
   DIR [6] /Soziologin-ueber-Antisemitismusresolution/!6046643
   DIR [7] /Lehren-aus-den-Gaza-Protesten/!6040006
   DIR [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Menschliche_Sicherheit
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kavita Ramdas
       
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