URI: 
       # taz.de -- Alltag in der Westukraine: Der stillere Krieg im Westen
       
       > Im ukrainischen Uschhorod wurden nach Kriegsbeginn Symbole russischer
       > Kultur aus dem Stadtbild entfernt. Statt ihrer wird nun Gefallener
       > gedacht.
       
   IMG Bild: Das zerstörte sowjetische Denkmal für die Befreier in Uschdorod im November 2022
       
       Uschhorod taz | Es herrscht Krieg, aber es ist ein stillerer Krieg als im
       Rest der Ukraine. In der Region Transkarpatien, im äußersten Westen des
       Landes, benannt nach dem Karpatengebirge, gibt es keine nächtliche
       Ausgangssperre – nur ein einziges Mal schlug hier tatsächlich ein
       russisches Geschoss ein, andere konnten von der Luftabwehr erfolgreich
       abgefangen werden. Sirenen sind dennoch immer wieder zu hören, seit
       Kriegsbeginn ertönte fast 550 Mal Luftalarm.
       
       Die Hauptstadt von Transkarpatien, Uschhorod, liegt unmittelbar an der
       slowakischen Grenze und nahe der ungarischen, nach Rumänien und Polen ist
       es ebenfalls nicht weit. Auf den Straßen hört man Gespräche auch auf
       Russisch, denn viele Binnengeflüchtete aus frontnahen Gebieten sind nach
       der russischen Großinvasion hierher gezogen. Früher lebten in Uschhorod
       115.000 Menschen, jetzt sollen es wie in der gesamten Region etwa ein
       Drittel mehr sein.
       
       Neben einer großen ungarischen Minderheit leben in Transkarpatien auch
       Russ*innen, Rumän*innen, Slowak*innen, Romn*ja und Rusin*innen – eine
       slawische Ethnie aus den Karpaten. Früher gehörte Transkarpatien zum
       Königreich Ungarn, in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg
       war es Teil der Tschechoslowakei, dann fiel es an Ungarn und nach 1945
       schließlich an die Sowjetunion. Seit 1991 gehört die Region [1][zur
       unabhängigen Ukraine], die Russland gerade zu vernichten gedenkt.
       
       Einst stand im Zentrum von Uschhorod wie in vielen Orten [2][der
       Sowjetunion] eine Büste des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin.
       Jetzt ist nur noch ein leerer Sockel mit seinem Namen geblieben, das
       Standbild wurde anderthalb Monate nach Beginn der russischen Großinvasion
       abgerissen. Es ist verständlich, dass die Menschen sich hier mitten im
       Krieg nicht mehr als Teil der russischen Welt verstehen und keine Symbole
       ihrer in Teilen imperialen Kultur dulden möchten.
       
       ## Vom Sockel geholt
       
       Kurz vor dem Abriss versuchten sie sich dieser Symbolik noch durch
       ironische Umwidmung zu entledigen: Die Puschkin-Statue wurde mit dem Namen
       des amerikanisch-französischen Musikers Joe Dassin versehen, dessen Familie
       aus Odessa stammt und der äußerlich eine erstaunlich große Ähnlichkeit mit
       dem Dichter aufweist.
       
       Puschkins Landsmann Lenin wurde bereits im ersten Jahr der Unabhängigkeit
       der Ukraine von seinem Sockel geholt. Der Bronze-Lenin lagerte dann bis
       2010 in einer schäbigen Garage, bis es hieß, er solle eingeschmolzen und
       als der griechisch-katholische Priester Andreas Bacsinsky
       wiederauferstehen. Dazu kam es aber bislang nicht.
       
       Ungleich ernster wird es, wendet man sich der symbolischen Ebene ab und den
       Toten der Stadt zu. Im Zentrum von Uschhorod sind zahlreiche
       Metallkonstruktionen mit ukrainischen Flaggen aufgestellt, auf jeder der
       über den Metallstäben gespannten Planen wird der toten Soldaten aus
       Uschhorod gedacht, die fielen, als sie ihr Land verteidigten. Einer von
       ihnen ist der DJ und Musiker Maksym Naumenko, bekannt in der Uschhoroder
       Szene. Er kommt ursprünglich aus Donezk und flüchtete 2014 mit seiner
       Familie vor der russischen Aggression im Donbas hierher.
       
       ## Angst vor der Einberufung
       
       Zu Beginn der Großinvasion meldete er sich freiwillig zum Dienst an der
       Waffe und starb im Einsatz, ausgerechnet in seiner Heimatregion Donezk. Ein
       Rekrutierungszelt der Nationalgarde wirbt mit „Ehre, Tapferkeit, Gesetz“.
       Viele Männer sind schon bei der Armee. Die, die es noch nicht sind,
       überlegen sich, wie sie sich zum Militärdienst melden, ohne ihr Leben allzu
       sehr zu gefährden.
       
       Die Angst vor dem Einberufungsamt, dem TZK, ist allgegenwärtig. In einer
       Bar werden junge Männer vom Personal gewarnt und gefragt, ob sie eine
       Bescheinigung bei sich tragen, die sie vom Dienst freistellt, denn das TZK
       komme öfter vorbei. Man hört, dass einige kaum ihre Wohnungen verlassen aus
       Angst, eingezogen zu werden.
       
       Es herrscht Krieg in unterschwelliger Form. Er mag physisch und psychisch
       weniger belastend sein als in den anderen Regionen, aber er ist deutlich
       spürbar. Und es ist unsäglich, dass in Deutschland Politiker*innen
       nicht nur der extremen Rechten oder autoritären Linken, sondern auch aus
       der politischen Mitte regelmäßig mit populistischer Rhetorik gegen
       Kriegsopfer aus diesem Landesteil auf Stimmenfang gehen.
       
       29 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Drone-Musik-aus-der-Ukraine/!6035271
   DIR [2] /Experimentalmusik-aus-der-Ukraine/!5998675
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yelizaveta Landenberger
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Denkmäler
   DIR Ukraine
   DIR Krieg
   DIR Russland
   DIR Wladimir Putin
   DIR GNS
   DIR Social-Auswahl
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Russland
   DIR Jazz
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Auswirkungen der Erderhitzung: Klimawandel macht krank
       
       Die Erderhitzung sorgt dafür, dass immer mehr Menschen an Hitze, Starkregen
       und Krankheiten sterben. Davon sind nicht alle Menschen gleich betroffen.
       
   DIR Deutschlandbild in Russland: Rapide schlechter geworden
       
       Das Lewada-Zentrum fragte nach der Meinung der russischen Bevölkerung über
       Deutschland. Die hat sich seit dem Krieg völlig geändert.
       
   DIR Gedenkkonzert zum Kriegsausbruch: Gegen die Wiederkehr des Schreckens
       
       Der polnische Geiger Adam Bałdych gab in der Berliner St.-Elisabeth-Kirche
       ein ergreifendes Konzert zur Erinnerung an den Ausbruch des 2. Weltkriegs.
       
   DIR Drone-Musik aus der Ukraine: Experimente und Gräueltaten
       
       Drones für Drohnen: Ein Avantgarde- und Noise-Musik-Fundraisingprojekt vom
       Label Kyivpastrans aus der Ukraine.