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       # taz.de -- Ein Brief in die USA: Dear family, dear friends
       
       > Viele der US-amerikanischen Verwandten und Freunde unserer Autorin
       > könnten Donald Trump wählen. Ein letzter Versuch, sie umzustimmen.
       
   IMG Bild: Wie bewusst ist euch, dass die halbe Welt sich auf euch verlässt?
       
       Aus dem fernen Europa schreibe ich euch, weil wir hier in großer Sorge
       sind. In wenigen Tagen [1][wählt ihr eine neue Präsidentin oder einen
       Präsidenten]. Und das hat nicht nur Auswirkungen für euch, sondern für die
       ganze Welt.
       
       Wir haben kaum je über Politik gesprochen. Das Thema zu vermeiden, ist
       eines eurer ungeschriebenen Gesetze, erst recht, [2][seitdem das Misstrauen
       gegeneinander so allgegenwärtig ist], dass die einen sich im permanenten
       Bürgerkrieg wähnen und die anderen nur noch ihre Ruhe haben wollen. Man
       liest die Zeichen beim Gegenüber still und für sich. Nur manchmal sind sie
       so deutlich wie der Spruch auf deinem T-Shirt, Mike, um zu wissen, was Du
       vom Gedenktag zur Schwarzen Befreiung hältst: nämlich gar nichts. Und dass
       die Knie-Geste von Footballstar [3][Colin Kaepernick] für dich nichts
       anderes ist als Landesverrat. Denn knien darf man deiner Meinung nach nur
       vor dem Kreuz.
       
       Zu euren ungeschriebenen Gesetzen gehört, dass man nicht einfach ein Stück
       Rasen betritt, nur weil kein Zaun drumherum steht. Wir haben etwas
       gebraucht, um das zu begreifen, als wir vor ein paar Jahren für eine Weile
       nach North Carolina gezogen sind. Um näher an der Familie zu sein und ein
       anderes Leben kennenzulernen. Zum Glück habt ihr, Randy und Ellen, gelassen
       reagiert, als unsere Kinder anfangs einfach in euren Garten hineinspaziert
       sind. Und immer weiter liefen, bis auf dem übernächsten Grundstück der
       unsichtbare Stacheldraht von Kenny ihnen einen kleinen Stromschlag versetzt
       hat.
       
       Wir haben den Kindern dann eindringlich erklärt, dass sie sich von Kenny
       fernhalten sollten, dessen sieben Kinder man nie außerhalb des Hauses sieht
       und von dem man weiß, [4][dass er ein Waffennarr ist]. Später sind wir dann
       zu Kennys Haus. Und so wie er sofort zugänglich wurde, als wir bei ihm
       geklingelt und uns vorgestellt haben. Er würde sicher nicht auf uns oder
       auf unsere Kinder schießen. Wir waren einander begegnet, haben Sorgen und
       Haltungen ausgetauscht, und in den USA reicht das manchmal, um zu sagen,
       dass man Freunde geworden ist.
       
       Trotzdem bin ich nicht sicher, ob ihr diesen Brief als übergriffig
       empfindet. Aber ich muss es riskieren, denn es ist einfach so: Amerika ist
       fast überall. [5][Die halbe Welt hört Taylor Swift], isst bei McDonald’s,
       telefoniert mit iPhones, in der halben Welt stehen eure Waffen. Selbst das
       kleinste Land im fernsten Asien fühlt sich sicher vor räuberischen
       Angriffen, solange es unter US-amerikanischem Schutz steht. Wie bewusst ist
       euch, dass die halbe Welt sich auf euch verlässt?
       
       ## Ich weiß, euch ist nicht egal, was bei uns in Europa geschieht
       
       Als wir vor mehr als zwei Jahren nach Amerika kamen, brach ein Krieg in
       Europa aus. Viele von euch hissten in Solidarität ukrainische Flaggen. Euer
       Land stellte sich sofort an die Seite des angegriffenen Staates und Waffen
       zur Verteidigung gegen Putin bereit. Ich habe damals zu euch gesagt, wie
       froh ich sei, dass Joe Biden gerade Präsident der USA ist – und nicht
       Trump. Das war schon damals schockierend direkt für euch und ihr habt
       erschrocken geschwiegen. Aber ihr habt auch zugehört. Das ist auch jetzt
       meine Hoffnung: Dass ich euch mit meiner Sorge erreichen kann.
       
       Ich weiß, euch ist nicht egal, was bei uns in Europa geschieht, wie es den
       Menschen geht. [6][Ihr liebt Prag, München und Paris, Ihr liebt Italien].
       Aber ihr wisst wenig Bescheid, wir sind eben weit weg. Und ich glaube, ihr
       ahnt vielleicht nicht, was es für uns bedeuten könnte, wenn Donald Trump am
       5. November die Wahlen gewinnt.
       
       Einige von euch glauben, dass Putin sich nie getraut hätte, sein
       Nachbarland anzugreifen, wenn Trump noch an der Macht gewesen wäre. Eric,
       du wolltest es mir sogar beweisen, mit dem Videoclip vom dominanten
       Handshake Trumps mit Putin. Du bist ja auch nach D. C. gefahren [7][am 6.
       Januar 2021]. Du glaubtest, dass Trumps Präsidentschaft von Strippenziehern
       im Hintergrund verhindert werden sollte. Trump sei diesen Verschwörern ein
       Dorn im Auge, weil er unberechenbar und unkontrollierbar ist. Weil er
       angeblich frei heraus sagt, was er denkt. Also bist du, Eric, zur
       vermeintlichen Verteidigung der Demokratie geeilt.
       
       Inzwischen haben Gerichte viele von denen verurteilt, die damals dabei
       waren. Der Sturm aufs Kapitol wird ziemlich einhellig als Angriff auf die
       Demokratie gewertet. Trotzdem ist Trump nach wie vor sehr beliebt und auch
       viele von euch werden ihn wieder wählen. Und dann? Mal abgesehen von seinem
       Plan, die USA zu entdemokratisieren, [8][den Umweltschutz um viele Jahre
       zurückzuwerfen] und zuzulassen, dass Millionen von Frauen keinen Zugang
       mehr zu Abtreibung haben – alles Dinge, unter denen ihr dann zu leiden
       haben werdet – es geht auch um uns!
       
       ## Putin träumt von Warschau, er träumt von Berlin
       
       Trump hat Anfang dieses Jahres gesagt, er als Präsident würde der Ukraine
       jede Hilfe entziehen und sie Putin ausliefern. Manche hoffen damit, einem
       schnellen Kriegsende nahezukommen. Aber was wäre das für ein Frieden? Wir
       wissen, dass die russische Armee dort, wo sie hinkommt, Zivilisten foltert
       und tötet, [9][hunderttausende Kinder entführt hat] und Dörfer dem Erdboden
       gleichmacht. Das wissen wir, weil es schon geschieht und es Beweise dafür
       gibt. Für euch ist es eine heilige Pflicht, euch und eure Familien gegen
       jeden Eindringling verteidigen zu können. Euch kann nicht egal sein, was in
       der Ukraine passiert!
       
       Sollte Trump seine Außenpolitik so gestalten, wie er es ankündigt – und
       davon sollten wir ausgehen – dann könnte die Ukraine in wenigen Wochen
       komplett in russischer Hand sein. Und Putin wird sich damit kaum
       zufriedengeben. Er träumt von Warschau, er träumt von Berlin.
       
       70 Millionen Menschenleben hat der deutsche Faschismus gekostet, Europa lag
       nach [10][dem Zweiten Weltkrieg] in Schutt und Asche. Viele eurer Väter
       oder Großväter meldeten sich damals freiwillig, als sich Amerika endlich
       entschlossen hatte, einzugreifen. Und damit den Kontinent von den Nazis
       befreite. Es hatte auch damals schon Sympathisanten von Hitler in eurem
       Land gegeben, die nicht wollten, dass die USA sich einmischten. Sie würden
       heute Trump wählen.
       
       Ihr glaubt mir nicht? Haltet all das für Propaganda von Linksradikalen?
       Erin, du hast mir gesagt, du vertraust niemandem mehr. Hast dich von einer
       engagierten Liberalen zu einer unpolitischen Frau gewandelt. Denn
       mittlerweile glaubst du, dass sie alle lügen. Dieses Misstrauen in die
       Politik, in den Staat und seine Institutionen – ich habe nie verstanden,
       wie ihr Facebook, Google und anderen Konzernen in blindem Glauben all eure
       Daten zur Verfügung stellen könnt, nur um bei Food Lion 15 Prozent off für
       den Einkauf zu bekommen. Aber gleichzeitig sämtlichen Behörden unterstellt,
       sie würden euch kontrollieren wollen!
       
       ## Es geht um den Frieden in Europa und in der ganzen Welt
       
       Was ich wiederum verstehe: Ihr seid es gewohnt, euch um eure eigenen
       Probleme zu kümmern. Wenn die Sirenen heulen, weil sich ein Hurrikan
       nähert, so [11][wie kürzlich in North Carolina]: Wer hievt hinterher die
       umgekrachten Bäume von euren Autos? Repariert die Telefonleitung? Räumt die
       Straßen wieder frei, pumpt das Wasser ab? Wohl kaum der Staat, sondern ihr
       selbst.
       
       Eure Hilfsbereitschaft kann grenzenlos sein, aber ihr habt auch Angst, den
       Falschen zu vertrauen. Kein Wunder, denn in Amerika bewegt man sich stets
       nah am Abgrund, es gibt nur zwei Extreme: Entweder es geht euch richtig gut
       und ihr könnt mit 50 in Rente gehen, so wie Mike. Oder ihr müsst immer
       weiter arbeiten, um die Miete und eure Schulden bezahlen zu können, so wie
       Bill. Der hat nicht einmal mehr ein Auto, seit er sich nach einem
       Arbeitsunfall einer teuren Operation unterziehen musste.
       
       Bill läuft jetzt die fünf Meilen zu seiner Kirche und wieder zurück, viele
       von euch fahren an ihm vorbei, anstatt ihn mitzunehmen. Elend könnte
       ansteckend sein und Vertrauen den Lebensstandard kosten. Angst ist
       allgegenwärtig und die einen begegnen ihr mit Aggressivität und die anderen
       schauen weg. Und deshalb glaubt ihr, ihr müsstet euch abschotten, weil
       sonst Einwanderer kommen, [12][um eure Hunde und Katzen zu essen].
       
       Viele von euch wollen am 5. November Trump wählen. Weil ihr die Demokraten
       hasst. Weil ihr weniger Steuern zahlen wollt. Weil ihr Angst habt, dass
       eure Kinder in den Schulen die falschen Werte mitbekommen. Aber diesmal
       geht es nicht nur um Steuern oder Critical Whiteness oder um das
       Waffenrecht. Es geht um den Frieden in Europa und in der ganzen Welt.
       
       Denkt daran, dass auch ihr mal die Kettensäge eures Nachbarn brauchen
       könntet. Seid bei der Wahl so großherzig, wie wir euch kennen. Und gebt
       eure Stimme nicht denen, die in euch Misstrauen, Egoismus und Hass
       erzeugen. Ihr könntet es bereuen.
       
       Sunny Riedel, 43, hat mit Mann und Kindern 2022 einige Zeit in einem Dorf
       in North Carolina, nahe der Familie ihres Mannes, gelebt. Weit außerhalb
       ihrer Berliner Blase traf sie auf viele Widersprüche, etwa, dass die
       nettesten Leute oft die größten Trump-Fans sind.
       
       27 Oct 2024
       
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