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       # taz.de -- Mikey Madison in „Anora“: Die Prinzessin der Gegenwart
       
       > Mit „Anora“ erzählt Sean Baker ein modernes Märchen, das mehr Tiefe
       > beinhaltet als der erste Blick vermuten lässt. In Cannes gewann er den
       > Hauptpreis.
       
   IMG Bild: Ein Märchen mit Hindernissen: Vanya (Mark Eydelshteyn) und Ani (Mikey Madison) im Glück
       
       Wenn es stimmt, dass das Glück mit den Tüchtigen ist, dann muss es mit Ani
       (Mikey Madison) sein. Immerhin vereint die junge Frau die Tugenden Fleiß,
       Eifer und Erfindungsreichtum, ist flexibel und zuverlässig. Und das bei
       diesem anstrengenden Job: Ani ist Sexarbeiterin in einem New Yorker Club.
       Was das bedeutet, zeigt Sean Baker in seinem neuen Film „Anora“ schon zu
       Anfang – mit vollem Körpereinsatz bearbeitet die 23-Jährige einen Gast bei
       einem Lapdance in einer der Privatlogen. Sie tanzt, reibt sich an ihm,
       lässt sich lächelnd anfassen und Geldscheine in den Gürtel stecken.
       
       Später tändelt sie in Dessous und High Heels mit potenziellen Kunden,
       schwingt das mit Glitzersteinchen geschmückte Haar und betreibt die für den
       Job obligatorische Mini-Konversation: „Hallo, wollen wir etwas Spaß haben?“
       Wenn Ani frühmorgens nach der Schicht mit verquollenen Augen in der U-Bahn
       sitzt oder versucht, in ihrem lauten Brooklyn-WG-Zimmer eine Mütze Schlaf
       zu bekommen, ist ihre Erschöpfung nachvollziehbar.
       
       Eines Nachts scheint das Glück Ani also hold: Ihr schwer arbeitender
       Hintern landet auf dem Schoß eines russischen Kunden namens Vanya (Mark
       Eydelshteyn). Der zwei Jahre jüngere Millionärssohn ist von ihr begeistert
       – und bucht sie gleich für ein ganzes Wochenende in seiner Villa am
       (traditionell von vielen Russ:innen bewohnten) Brighton Beach, einen
       Batzen Geld gibt es dazu.
       
       ## Die Disneysprinzessin und ihr Prinz
       
       Die Sause im Luxushaus verläuft besser als erwartet. Denn die beiden jungen
       Leute, denen das Schicksal die unterschiedlichsten Umstände mitgab, sind
       glücklich (sic) – wenn man das so nennen kann: Ani fühlt sich in seidener
       Bettwäsche und Marmorprunk wie eine Disneyprinzessin und liegt nach der
       Arbeit, die sie nun nur noch für einen (und an einem) einzigen Kunden
       ausübt, zufrieden neben ihrem kindsköpfigen Prinzen.
       
       Und Vanya kann endlich so viel und so oft vögeln, wie er will. Berauscht
       von Sex, Drogen und Was-kostet-die-Welt fahren sie bald darauf gar nach Las
       Vegas, um zu heiraten. Man soll die Feste schließlich feiern, wie sie
       fallen.
       
       Dass Sex ein Service ist, den man ebenso problemlos kaufen und verkaufen
       kann wie alles andere, stand für Regisseur Sean Baker noch nie zur Debatte.
       Er verneint keinesfalls, dass es Zwangsprostitution und brutale
       Milieugewalt gibt, dass das Prinzip, für das Ausleben seiner Lust zu
       bezahlen, von genderbedingten Ungerechtigkeiten begleitet wird und
       körperliche Befriedigung unterschiedlich leicht erreichbar (und
       unterschiedlich wichtig) ist.
       
       ## Sexarbeiterinnen und Trans-Prostituierte
       
       Doch Bakers fiktionale Held:innen, ob in „Red Rocket“, „Tangerine L. A.“
       oder seinem Frühwerk „Starlet“, sind selbstermächtigte Menschen, die ihre
       Haut freiwillig und stolz zu Markte tragen. Und die mit den Anforderungen
       ihres Jobs rein technisch umgehen: [1][In „Red Rocket“ erkennen] zwei
       ehemalige Sexarbeiter:innen den Verkehr miteinander auch nach Ende
       ihrer Beziehung und ihrer beruflichen Karriere professionell an; in Bakers
       2015 auf Handys gedrehtem Drama „Tangerine L. A.“ kann sich eine betrogene
       Trans-Prostituierte mit dem für Bakers Hang zum Märchenhaften typischen
       Namen Sin-Dee Rella auf die Solidarität einer Freundin verlassen.
       
       Und in „Starlet“ erzählte Baker 2012 von der Freundschaft einer jungen,
       kalifornischen Pornodarstellerin mit einer stacheligen alten Dame – um eine
       Jobproblematik ging es bei diesem gefühlvollen Porträt nicht.
       
       Auch bei „Anora“ ist es darum nicht die Sexarbeit selbst, die das
       pittoreske Ehe-Idyll aus Coitus, Computerspielen und Pelzmantelkauf
       plötzlich empfindlich stört. Sondern es sind Vanyas Eltern, die vom
       Verhalten ihres Söhnchens Wind bekommen – und keinerlei Interesse daran
       haben, eine brotlose US-amerikanische Sexarbeiterin in der
       Oligarchenfamilie willkommen zu heißen.
       
       Sie schicken darum eine schnelle Eingreiftruppe aus einem Verwandten, ein
       paar tumben Schlägertypen und dem ortsansässigen Igor (Yura Borisov), die
       für die Annullierung der Verbindung sorgen soll. Aber die Eltern haben die
       Rechnung ohne Anis Glauben an die Institution der Ehe gemacht, vor allem
       ohne ihr Temperament.
       
       Wie üblich steckt eine Menge Liebe in Bakers Film – es ist eine
       uneigennützige Liebe, deren Form Baker seine Figuren selbst definieren
       lässt. Vanya ist ein verzogener, einem törichten Hundewelpen ähnelnder
       Hedonist, der nur das fortführt, was seine Eltern bei ihm verbockt haben.
       Die lebhafte Ani ist eine Glücksritterin, vor deren Schreien und Fluchen
       sogar ausgewachsene Raufbolde kapitulieren.
       
       ## Eine kämpferische Frau
       
       Überhaupt geht die Gewalt, die – Baker ist nicht so naiv wie manche seiner
       Figuren – natürlich in allen Ecken der Geschichte lauert, nie von den
       Männern aus, wenn man Igors erfolglosen Versuch, Ani durch Festhalten am
       Zerlegen der Umgebung zu hindern, außen vor lässt. Stattdessen lernt der
       Schlägertrupp, den Kopf einzuziehen, wenn Ani loslegt. Nur Igor beginnt
       heimlich, die kämpferische Frau zu verehren.
       
       Konsequent inszeniert Baker zu Beginn seines nach einem eigenen Drehbuch
       inszenierten Films jede Menge male gaze – denn der verkörpert Anis
       berufliches Ziel. Jenes begehrliche, objektifizierende Starren auf einen
       normativ perfekten Frauenkörper lässt er jedoch sukzessive einem liebenden,
       bewundernden Blick weichen. Schließlich kann man Ani nur bewundern, für
       ihren Glauben an die Liebe, ihre untadelige Standhaftigkeit, ihren
       Kampfgeist und ihren Mut, sich mit jedem und jeder aus der vorurteilsvollen
       Umgebung anzulegen.
       
       Auch Ani selbst muss in einer Spiegelung ihrer eigenen Erfahrung mal kurz
       auflaufen: Als Igor ein starkes Opiat für einen der Schläger auftreibt,
       vermutet Ani – streetwise, aber auch voreingenommen –, dass er, typisch
       Russe, im Drogenhandel tätig ist. Weit gefehlt: „Die Schlaftablette habe
       ich meiner Oma geklaut“, protestiert Igor.
       
       Das für die Zuschauer:innen größte Glück ist es jedoch, zu erleben, wie
       Hauptdarstellerin Mikey Madison die Anora-Figur interpretiert. Mit
       kindlichem Vertrauen und weiser Souveränität schickt Madison Ani durch das
       von ihr erschaffene Märchen und macht sie zum moralischen Zentrum des
       Films.
       
       Wie optimistisch und entwaffnend Ani sich durch die hier gschamig als
       „Rotlichtmilieu“ bezeichnete Umgebung bewegt, wie beherzt sie in einer
       Mischung aus Englisch, Russisch und dem international verständlichen,
       inflationär gebrauchten „Fuck!“ parliert und wie draufgängerisch sie sich
       in die physischen Streitigkeiten stürzt, ist, so seltsam es klingen mag,
       eine Freude.
       
       ## Kein typisches Happy End
       
       Dass sich Baker am Ende etwas zu sehr an das den Film durchwirkende
       Märchennarrativ hält und zwar kein dafür typisches Happy End, aber doch
       eine Art Ritter auf einem weißen Pferd andeutet, kann man kritisieren – die
       Ermächtigung, die Ani vorher bereits geleistet hat, schmälert das aber
       nicht. Und vielleicht steckt auch hinter dem Ende der Versuch, ganz in Anis
       Sinne zu erzählen: Sie hätte es vermutlich genauso geschrieben.
       
       Für „Anora“, der wie die meisten anderen Filme Bakers von seiner Ehefrau
       Samantha Quan produziert wurde, bekam [2][Baker bei den Filmfestspielen in
       Cannes die Goldene Palme] verliehen – eine Auszeichnung, die [3][seine
       Beschäftigung mit dem Thema Sexarbeit] ebenso ehrt wie den Film selbst.
       Denn zwischen den Zeilen stellt der Film in Frage, wieso man bei
       freiwilliger Sexarbeit eigentlich immer davon spricht, den „Körper zu
       verkaufen“. Letztendlich nimmt man seinen Körper nach getaner Arbeit doch
       wieder mit nach Hause.
       
       24 Oct 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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