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       # taz.de -- Forscher über Libanon: „Die Hisbollah ist zweitgrößter Arbeitgeber“
       
       > Im Libanon galt die Hisbollah lang als größter politischer Akteur. Doch
       > die Unterstützung in der Bevölkerung schwindet, beobachtet der Aktivist
       > Joseph Daher.
       
   IMG Bild: Dokumente liegen verstreut herum in einem Beiruter Vorort, 21. Oktober 2024
       
       taz: Herr Daher, die Hisbollah ist politische Partei, bewaffnete Miliz und
       Organisation. Wie viele Mitglieder hat sie insgesamt? 
       
       Joseph Daher: Wir müssen vorsichtig sein mit solchen Schätzungen. Die Zahl
       der Mitglieder liegt höher als die der Angestellten. Aber: Wenn wir uns den
       zivilen Zweig der Hisbollah ansehen, mit ihren verschiedenen
       Medieneinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Waisenhäusern und
       Pfadfinder*innen, sind das so um die 50.000. Genauso viele Soldaten, sowohl
       Berufssoldaten als auch Reservisten. Also potenziell insgesamt 100.000. Das
       sind Angestellte. Das heißt: Es ist höchstwahrscheinlich der zweitgrößte
       Arbeitgeber im Libanon, nach dem öffentlichen Sektor.
       
       taz: Was sind die Einnahmequellen der Hisbollah? 
       
       Daher: Die Einnahmequellen sind vielfältig. Der Iran bleibt mit Sicherheit
       der wichtigste Sponsor. Bis heute gibt es eine politische, wirtschaftliche
       und militärische Verbindung. Es gibt eine wachsende schiitische
       Bourgeoisie, die mit der Hisbollah verbunden ist. Zu der riesigen
       libanesischen Diaspora gehört auch eine schiitische Bourgeoisie, aus
       Westafrika, Südamerika, Europa und den USA, die finanziell zur Partei
       beiträgt. Sie hat legale Geschäfte durch ein Netzwerk von Geschäftsleuten
       mit Verbindung zur Partei ausgeweitet und auch illegale Geschäfte
       ausgebaut, insbesondere in Syrien beim Schmuggel von wichtigen Rohstoffen
       wie Heizöl und bei der Herstellung und dem Handel mit der Droge Captagon.
       Schließlich gibt es noch religiöse Spenden.
       
       taz: Hat die Hisbollah eine Schlüsselrolle, wenn es um Sozialleistungen
       geht? 
       
       Daher: Die Hisbollah hat als Staat im Staat agiert. Durch ihr Netzwerk an
       Wohltätigkeitsorganisationen leistet sie eine Vielfalt an absolut
       notwendigen sozialen Diensten. Aber die Hisbollah ist nicht der politische
       Akteur, der das klientelistische, politische System etabliert hat. Die
       gesamte herrschende Klasse hat seit der Gründung des Staates den Aufbau
       eines starken Sozialstaates verhindert. Um so den Klientelismus zu nutzen
       und Arbeitsplätze zu schaffen, zum Beispiel in Ministerien. Keine andere
       politische Partei kann mit der Hisbollah mithalten in Bezug auf das
       Netzwerk von Institutionen, das sie aufgebaut hat, und Geldquellen von
       außerhalb – insbesondere Iran. Deshalb ist sie auch einer der größten, wenn
       nicht der größte Akteur im Libanon in den frühen 2000er Jahren. Damit trägt
       sie auch Verantwortung für die aktuelle Lage.
       
       Das heißt wiederum nicht, dass die Hisbollah die Einzige ist, die für die
       sozioökonomische Krise verantwortlich ist. Bereits bevor die Hisbollah 2005
       in die Regierung kam, wurde die Art von Ponzi-Scheme, das den Libanon in
       die Pleite gebracht hat, vom sunnitischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri
       aufgebaut. Er hat das Schneeballsystem aufgebaut,in dem die libanesischen
       Banken seit Anfang der 1990er Jahre hohe Zinsen boten, um Einlagen in
       US-Dollar anzulocken, und das Geld dann an die Regierung verliehen, die es
       nicht zurückzahlte. Die Hisbollah ihrerseits hat diese neoliberale Politik
       nicht infrage gestellt, sondern sich an ihrer Dynamik beteiligt.
       
       taz: Wie steht es um das Image der Hisbollah als einzige Kraft, die den
       Libanon gegen Israel verteidigt? 
       
       Daher: Bis Anfang der 2000er gab es eine breite populäre Basis, die die
       Hisbollah als Widerstandskraft wahrgenommen hat. Vor allem im Jahr 2000,
       als Israel – mit Ausnahme der Schebaa-Farmen – aus dem Libanon abgezogen
       ist, und im Krieg 2006. Aber das hat sich gewandelt: Danach spielt die
       Hisbollah eine zunehmende Rolle innerhalb des iranischen Einflusses.
       Zwischen 2006 und 2023 war Palästina nicht das Hauptthema, sondern die
       Beteiligung am Krieg in Syrien an der Seite des Assad-Regimes und der
       Einsatz von Waffen gegen andere libanesische Akteure, wie die bewaffnete
       Übernahme von Westbeirut 2008.
       
       Bei der Explosion von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut vor vier Jahren
       wird die Hisbollah als eine der Hauptakteure wahrgenommen, die die
       Ermittlungen verhindert. Die Hisbollah kann nicht weiter behaupten,
       Verteidiger der Unterdrückten im Libanon zu sein. Auch sie hat unabhängige
       Gewerkschaften und soziale Bewegungen wie den Aufstand 2019 bekämpft.
       
       taz: Das Image der Hisbollah ist über die Zeit verblasst. Mit dem Krieg
       braucht es eine Kraft, die den Libanon gegen Israel verteidigt. Wenden sich
       nun mehr Menschen der Hisbollah zu, die sich eigentlich schon abgewandt
       hatten? 
       
       Daher: Nein. Denn es sind verschiedene Dynamiken im Spiel, darunter
       regionale, konfessionelle und sozioökonomische. Zwar verteidigen die
       Menschen im Allgemeinen das Recht auf Widerstand oder sehen die
       Bombardierung und Invasion Israels negativ, doch das führt nicht zu einer
       breiteren politischen Unterstützung der Hisbollah.
       
       Die Spannungen innerhalb des Landes nehmen zu, und einige weigern sich,
       Geflüchtete oder Vertriebene aus den mehrheitlich schiitischen Gebieten
       aufzunehmen, aus Angst, Sektierertum und Rassismus. Die Hisbollah hat den
       breiten Rückhalt bei anderen religiösen Gruppen verloren. Sie ist in der
       schiitischen Gemeinschaft nach wie vor hegemoniale Kraft, aber jetzt gibt
       es mehr Kritik. Und die Frage stellt sich auch, ob die Hisbollah den
       Wiederaufbau nach dem Krieg leisten kann.
       
       taz: Aber ideologisch kann die Hisbollah von der Invasion Israels nur
       gewinnen?
       
       Daher: Nein, da bin ich mir nicht sicher. Es hängt davon ab, was passieren
       wird. Der Krieg Israels gegen den Libanon ist noch nicht zu Ende. Vieles
       wird davon abhängen, ob es Israel gelingt, die Hisbollah sowohl politisch
       als auch militärisch zu schwächen. Auch aufseiten der Hisbollah gibt es
       eine Entwicklung, die sich auf den Schutz ihrer Interessen und
       Parteistrukturen konzentriert: Die Strategie der Verbindung der
       militärischen Fronten im Libanon und in Gaza ist in vielerlei Hinsicht
       gescheitert: Die Hisbollah war nicht in der Lage, den Genozid in Gaza zu
       stoppen, während der Libanon stark gelitten hat. Das wird sehr in Frage
       gestellt.
       
       taz: Was wäre die Alternative zur Hisbollah? 
       
       Daher: Eine starke soziale und politische Bewegung, die die Grundlage
       schafft für einen libanesischen Staat, der demokratisch ist, säkular und
       sozial gerecht ist. Wir brauchen eine starke Volksbewegung von unten – eine
       Art Gegenkraft aus dem Volk.
       
       taz: Und ein starkes Militär, das den Libanon verteidigt? 
       
       Daher: Ich würde der libanesischen Armee nicht zu viel Bedeutung beimessen,
       die für viele Libanesen die Einheit aller Konfessionen symbolisiert. Aber
       sie ist weit davon entfernt, demokratisch zu sein. Wir haben die repressive
       Rolle der libanesischen Armee während der Massenproteste 2019 gesehen, auch
       wenn die Reaktion nicht mit der anderer Armeen vergleichbar ist. Auch wenn
       es um Palästinenser, Syrer und Arbeitsmigranten geht, ist das libanesische
       Militär sehr repressiv.
       
       21 Oct 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Neumann
       
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