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       # taz.de -- Irritationen über US-Wahl: Aufklärung oder Angstlust
       
       > Während der TV-Debatte zwischen Vance und Walz sympathisiert unser
       > Kolumnist mit dem Republikaner. Hätte er unter anderen Umständen Trump
       > gewählt?
       
   IMG Bild: Die Debatte der US-Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz und J.D. Vance in einer Bar in Manhattan am 1. Oktober
       
       Anfang Oktober sitze ich im National Press Club in Washington, D.C. Ein
       sonderbarer Ort, einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt, der aus einer
       Zeit stammt, in der Journalismus noch elitärer war als heute. Über einem
       Klavier hängt ein Foto vom ehemaligen Präsidenten Harry Truman, wie er auf
       diesem Klavier spielt. Auf einem anderen Foto lächeln sich Barack Obama und
       George Clooney in diesen Räumlichkeiten zu. In den Gängen hängen noch mehr
       Fotos von wichtigen Besuchern, vor allem weißen Männern, aber auch von
       Martin Luther King.
       
       [1][Mit anderen deutschen Stipendiat:innen] bin ich hier eingeladen,
       um die Debatte der US-Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz und J.D.
       Vance zu verfolgen. Im holzverkleideten und teppichbezogenen Raum sitzen
       Männer in Anzügen – wenn sie Zigarren rauchen würden, wäre das Bild
       perfekt, denke ich.
       
       Doch zumindest in diesem Punkt ist dieser Ort mit der Zeit gegangen:
       „Rauchen verboten“, antwortet ein Kellner in Uniform leicht empört auf
       meine Nachfrage nach einer Möglichkeit, sich mit einer Zigarette von der
       Anspannung zu erleichtern, die mich hier überkommen hat. Ich bestelle mir
       also ein Bier – und beobachte. So wie ich beobachtet habe, als ich das
       allererste Mal im Bundestag, in einer Redaktion oder einem Berliner Club
       stand.
       
       Die Debatte beginnt und ein älterer Kollege weist die jüngeren,
       aufstrebenden Journalisten im hinteren Teil des Raumes zurecht, weil die
       ein Football-Spiel schauen und laut herumwitzeln. Wie würdelos!, denke auch
       ich in einem Reflex der Anpassung, der mich verleitet, alles zu negieren,
       was nicht zu dieser Situation passt. Oder wovon ich denke, dass es nicht
       passt. Was für Proleten! Ganz so, als würde ich gerade nicht auch lieber in
       der Nordkurve meines Lieblingsvereins stehen.
       
       ## Auf der falschen Seite
       
       Wer die Debatte gewonnen hat, steht da schon fest an diesem Ort – natürlich
       nicht Vance, auch so ein Prolet. Als dieser Speichellecker Trumps das Wort
       ergreift, komme ich aber in Schwierigkeiten. Als Allererstes spricht er
       davon, wo er herkommt, von der Armut, seiner drogenkranken Mutter, einer
       Welt, die eigentlich nicht in diesen Pressclub und auch nicht in die große
       Politik gehört. Menschen um mich herum lachen auf, verdrehen Augen, schauen
       genervt. Als Walz später anfängt, mit Abkürzungen um sich zu werfen
       ([2][ACA für Affordable Care Act oder Obamacare] – eine gute Sache), fallen
       bei mir Herz und Verstand endgültig auseinander.
       
       Ich trinke also mein Bier aus und gehe nach Hause mit dem Gefühl,
       vielleicht doch auf der falschen Seite zu stehen. Als ich ein paar Tage
       später in Arizona der Frage nachgehe, [3][warum Latinos Donald Trump
       wählen], taucht das Gefühl wieder auf.
       
       Das, was die Menschen über ihre Lebensherausforderungen erzählen, kann ich
       nachvollziehen – welche Schlüsse sie daraus ziehen, erschüttert mich.
       „Wären die Dinge für mich etwas anders gelaufen, fände ich Donald Trump
       heute vielleicht auch ganz toll“, ist ein unangenehmer Gedanke, der mich
       seither beschäftigt.
       
       Warum wählen so viele Menschen so jemanden wie Trump?, lautet die große
       Frage auch dieser US-Präsidentschaftswahl. Eine Frage, die viele weitere
       Fragen zur Folge hat.
       
       Ein journalistischer Zugang wäre es, ihnen nachzugehen, ohne etwas zu
       rechtfertigen. Oder man schreibt eben den hundertsten Artikel über eine
       Trump-Kundgebung, der sich liest wie einer über eine Freakshow. Die Lust an
       der Angst verkauft sich gut. Wer braucht schon Aufklärung, wenn es
       Unterhaltung gibt.
       
       5 Nov 2024
       
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