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       # taz.de -- Antisemitismus und der 7. Oktober: Mehr Dialog, weniger Urteil
       
       > Antisemitismus ist ein Problem der ganzen Gesellschaft, sagt Derviş
       > Hızarcı. Doch wieder werde nur auf Muslime gezeigt, klagt er in seinem
       > Buch.
       
   IMG Bild: Unangemeldete Demonstration „Free Palestine“ im Oktober 2023 auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln
       
       Ein Jahr nach dem 7. Oktober ist die deutsche Gesellschaft gespaltener denn
       je. Statt echter Anteilnahme und Trauer um die Toten auf beiden Seiten
       herrschen Hass und Schuldzuweisungen. Antisemitische Straftaten sind
       dramatisch gestiegen. Doch anstatt differenziert die Ursachen zu bekämpfen
       und so dafür zu sorgen, dass Jüdinnen und Juden hierzulande sicher leben
       können, hat die plumpe Rede vom „importierten Antisemitismus“ Konjunktur,
       wird die „Staatsraison Israel“ als hohles Schauspiel inszeniert. Und von
       Muslimen werden – wie nach 9/11 – Bekenntnisse verlangt, als ob sie das
       ganze Problem wären.
       
       Dies ist in Kurzform die Bestandsaufnahme von Derviş Hızarcı. Der
       Vorstandsvorsitzende der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus
       (KIgA) [1][und ehemalige Antidiskriminierungs-Beauftragte der
       Bildungsverwaltung] hat unter dem Titel „Zwischen Hass und Haltung. Was wir
       als Migrationsgesellschaft lernen müssen“ ein Buch vorgelegt, das nicht nur
       Verantwortliche in Politik und Gesellschaft nachdenklich stimmen sollte.
       Denn im Prinzip, sagt er, gefährden „wir als Gesellschaft“ mit der
       Diskriminierung, die Muslime, und vor allem muslimische Kinder und
       Jugendliche in Deutschland erfahren, „nicht nur die ‚Staatsräson Israel‘,
       sondern wir gefährden die Demokratie, die diese Staatsräson trägt“. Wen man
       ausschließt, der zieht sich zurück. „Und im Extremfall – und das ist die
       große Gefahr – verlieren wir die Kinder an radikale Bewegungen und
       Ideologien, die ihnen Zugehörigkeit, Selbstwertgefühl und Sinn zu
       vermitteln scheinen.“
       
       In einer gut lesbaren Mischung aus Biografie und pädagogischer
       Beispiel-Sammlung berichtet Hızarcı von seiner eigenen Sozialisation als
       „Migrationshintergründler“ samt der vielen Diskriminierungserfahrungen, die
       für Muslime und „Schwarzköpfe“, wie er sich selbst nennt, spätestens seit
       dem 11. September Alltag sind. Seitdem sei er in einer Verteidigungshaltung
       – „und ich mag diese Rolle nicht“, sagt der 41-Jährige bei der Vorstellung
       des Buchs am Dienstagabend im Pfefferberg Theater.
       
       [2][Er selbst hat es trotz alldem geschafft], sich hochgearbeitet vom Sohn
       türkeistämmiger „Gastarbeiter“ zum Geschichtslehrer und allseits
       anerkannten Fachmann für Antisemitismus gerade unter Muslimen, wofür er
       mehrfach geehrt wurde, mit dem Bundesverdienstorden und erst kürzlich mit
       dem Verdienstorden des Landes Berlin. Doch so richtig dazugehörig fühlt
       auch er sich nicht, wie er schreibt: „Wer sich entscheidet, über das
       Deutschsein zu richten, wer rechtsextreme Kampfbegriffe wie ‚Passdeutscher‘
       verwendet oder – wie Friedrich Merz – muslimisch gelesene männliche
       Jugendliche als ‚Paschas‘ abwertet und kollektiviert, muss sich im Klaren
       sein: Ich fühle mich davon angesprochen. Und mit mir Millionen von
       Menschen mit Migrationsgeschichte.“
       
       Dabei geht es Hızarcı nicht darum, den Antisemitismus unter Muslimen zu
       verharmlosen. „Ein Teil der Muslime in Deutschland hat antisemitische
       Einstellungen. Tatsache!“ Dies gelte aber auch für herkunftsdeutsche oder
       westeuropäische Linke, ebenso für Rechtsradikale. Ohnehin sei der
       Antisemitismus aus Deutschland nie verschwunden – und die AfD werde immer
       populärer. Das Problem auf „die Muslime“, „die Flüchtlinge“ abzuwälzen,
       funktioniere also nicht, so Hızarcı – und sein Frust darüber, dass Politik
       und Gesellschaft aus seiner Sicht genau dies versuchen, ist groß.
       
       Das Handtuch hinwerfen mag er dennoch nicht. Weil er erfahren hat, erzählt
       er im vollen Theatersaal, dass man tatsächlich etwas verändern kann in der
       Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, „dass sie Vorurteile abbauen, wenn man
       ihnen auf Augenhöhe begegnet und zuhört“. Der Kampf gegen Antisemitismus
       sei zu seiner „Lebenspassion“ geworden, auch damit seine Kinder – anders
       als er – „nicht erklären müssen, ob sie Aus- oder Inländer sind“.
       
       Doch was ist zu tun, wenn die Mehrheitsgesellschaft darin versagt hat, wie
       er schreibt, den Antisemitismus, „das deutscheste aller Übel“, zu
       bekämpfen? Wenn die Mehrheit meint, selbst genug getan zu haben – und nicht
       versteht, dass Integration „beide Seiten“ braucht? [3][Wenn Lehrer
       aggressiv auf Schüler mit Kufiyas reagieren und hilflos sind], wenn auf dem
       Schulhof mit „Du Jude“ beleidigt wird?
       
       Hızarcıs „Königsweg“, gespeist aus fast 20 Jahren Antisemitismusarbeit:
       Zugewandtheit, Offenheit, Dialog. Es brauche „Emphatie-Trainings“ für
       Lehrer, schreibt der Lehrer. „Nur wenn wir ihnen zuhören, können wir
       Jugendliche und Kinder gewinnen. Verständnis für die eigene Situation, die
       eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu bekommen, weitet den Horizont und
       ermöglicht es, andere Perspektiven anzuerkennen. Das bedeutet nicht, dass
       Hass oder Antisemitismus legitimiert wird.“
       
       Wie das praktisch aussehen kann, illustriert Hızarcı an zahlreichen
       Beispielen, was das Buch gerade für Lehrer zu einer hilfreichen Lektüre
       machen dürfe. Ausführlich erklärt er etwa seine Methode zum Umgang mit
       Schülern, die andere als „Jude“ beleidigen. Im Kern gehe es darum, sofort
       zu reagieren („Was hast du da gesagt?“), das Geschehene einzuordnen („Was
       hier gesagt wurde, ist eine antisemitische Diskriminierung“), andere
       Beispiele für Diskriminierungen zu finden und die Gemeinsamkeiten und
       Unterschiede zu diskutieren. Am Ende werden die Ergebnisse gesammelt,
       Regeln zum Umgang mit Diskriminierungen und mögliche Sanktionen vereinbart.
       
       Mit solchen Expertisen ist die KIgA seit dem 7. Oktober zu einer noch
       gefragteren Ansprechpartnerin für Schulen geworden als zuvor. Allein in den
       zweieinhalb Monaten bis Ende 2023 habe man über 800 zusätzliche Beratungen
       gehabt, sagt Silke Azoulai vom Geschäftsführungsteam. Dennoch steht die
       weitere Finanzierung des Vereins auf der Kippe. Die von der CDU geführte
       Bildungsverwaltung will die politische Bildungslandschaft umkrempeln, das
       hochgelobte KIgA-Projekt – und nicht nur dieses – gelten ihr wohl nicht
       mehr viel.
       
       Bei seiner Buchvorstellung hat Derviş Hızarcı dafür nur Bitterkeit übrig.
       Dass Politiker immerzu „Chanukka-Leuchter anzünden“, als wohlfeiles Zeichen
       der Solidarität sozusagen, „man aber fast schon betteln muss, um gegen
       Antisemitismus zu kämpfen, grenzt an Perversion“.
       
       7 Nov 2024
       
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