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       # taz.de -- Tierkostüme als Gefahr aus dem Westen: Wenn Kinderspiele zum Politikum werden
       
       > „Quadrobing“ heißt ein Trend, bei dem sich Kinder und Jugendliche als
       > Tiere verkleiden. In Russland droht deren Eltern nun der Verlust des
       > Sorgerechts.
       
   IMG Bild: Das Verkleiden von Hunden bleibt in Russland sehrwahrscheinlich erlaubt
       
       Vielleicht ist Sergei Lawrow im Kindergarten nie auf allen Vieren leise
       miauend unterm Tisch gekrochen. Vielleicht hat sich auch Wjatscheslaw
       Wolodin als Kind nie als Hund oder Fuchs versucht. Dabei sind Kinder sind
       ja eigentlich Meister im Verkleiden und Imitieren von allem Möglichen,
       darunter eben auch: Tieren.
       
       Doch Tiere, oh ja, die sind gefährlich. Vor allem, wenn sich Kinder als
       Tiere verkleiden, miauen und auf allen Vieren laufen. Gott bewahre!, sagen
       derzeit viele Russ*innen in offiziellen Funktionen. Kinder mit Masken und
       Stoffpfoten? Das dürfe nicht geduldet werden.
       
       Lawrow und Wolodin, heute Außenminister und Parlamentschef Russlands, sind
       sich sicher: Dieses „Projekt zur Entmenschlichung“, so Wolodin, diese
       „krankhafte Beschäftigung“, so Lawrow – in ihren Augen natürlich aus dem
       Westen heraus Russland unterwandernd –, müsse weg.
       
       ## Warnungen auf Elternabenden
       
       Die beiden sind nicht allein mit der Meinung, dass „Quadrobing“ oder
       „Quadrobics“, wie dieses Hobby einiger Kinder und Jugendlicher weltweit
       genannt wird, nichts in Russland zu suchen habe. [1][Ähnlich wie die –
       nicht vorhandene – „LGBTQ-Bewegung“] oder die – ebenfalls nicht vorhandene
       – [2][„Childfree-Bewegung“] soll nun auch „Quadrobing“ per Gesetz als
       „extremistische, destruktive Ideologie“ verboten werden.
       
       Ein Gesetzesentwurf liegt bereits in der Staatsduma vor. Denn unter
       Russlands Abgeordneten hat sich längst eine andere „Sportart“ verbreitet:
       Gefahren dort zu sehen, wo keine sind. Schon veranstalten Schulen
       Elternabende, Kliniken verteilen Merkblätter zur „Gefahr durch Quadrober“.
       Und der Staat droht Eltern mit dem Sorgerechtsentzug, sollte ihr Kind Hund
       oder Katze spielen.
       
       Der Begriff Quadrobics bezeichnet im Prinzip eine Art Fitnesstraining, bei
       dem Tierbewegungen imitiert werden. Die Subkultur geht auf den japanischen
       Sprinter Kenichi Ito zurück, der es im Jahr 2008 auf allen Vieren laufend
       ins Guinnessbuch der Rekorde schaffte. Doch ziehen sich dafür eben Kinder
       und Jugendliche auch Masken und Kostüme an. In Russland wächst der Verkauf
       von Tiermasken seit Monaten.
       
       ## Skandal nach einem Popkonzert
       
       Vor Monaten ist auch die beamtliche Hysterie in Sachen Quadrobics
       entbrannt, allerdings eher zufällig. [3][Die russische Sängerin Mia Boyko
       hatte auf einem ihrer Konzerte eine Achtjährige], die in der Menschenmasse
       verloren gegangen war, auf die Bühne geholt – und sich, kaum hatte sie
       deren Katzenmaske gesehen, lustig über das Kind gemacht.
       
       Viele warfen der Sängerin öffentliche Erniedrigung des Mädchens vor, Boyko
       wehrte sich: „Das sind fremde Einflüsse aus dem Westen, wo das Brechen von
       Normen zum Trend geworden ist. Das ist nicht normal. Ich will unsere
       Gesellschaft vor der Zerstörung bewahren.“
       
       Auf diesen Zug der „Wahrung von traditionellen Werten“ sprangen plötzlich
       auch Funktionär*innen auf. Und Russlands Außenminister Lawrow brachte
       die Quadrober auf die internationale Bühne, als er seinen armenischen
       Kollegen plötzlich fragte, ob in Armenien „so etwas“ auch bekannt sei. Der
       Armenier verstand gar nicht recht, worum es ging.
       
       ## „Prophylaxe und Heilung“ für kostümierte Kinder
       
       Russlands Abgeordnete sehen in den verkleideten Kindern einen „Virus“ und
       arbeiten bereits an „Maßnahmen zur Prophylaxe und Heilung“, [4][wie es
       Gennadi Skljar von der Regierungspartei Einiges Russland ausdrückt].
       Russlands Kirche erkennt darin eine „Antiwerte-Bewegung“. Russlands
       Propagandist*innen befürchten, das Tor zu „Unzucht und Faschismus“,
       wie es der Filmregisseur Nikita Michalkow nennt, sei geöffnet.
       
       Manche Eltern sind verunsichert: „Meine Tochter spielt Katze, völlig
       harmlos. Ich habe Angst, dass sie so in die Schule geht“, berichtet eine
       Mutter in einer Youtube-Sendung. „Als Fuchs fühle ich mich freier. Die
       Realität ist mir zuwider. Ja, ich flüchte“, erzählt ein 14-Jähriger in
       einer anderen Sendung. Es ist offenbar der Weg des jungen Quadrobers, genau
       der Welt zu entfliehen, die Lawrow, Wolodin und all die anderen aufbauen.
       
       2 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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