URI: 
       # taz.de -- Stress des Nikotinentzugs: Jetzt nur nicht spazieren gehen!
       
       > Manchmal will unsere Kolumnistin nicht vor die Tür – aus therapeutischen
       > Gründen. Es könnte gefährlich sein, weil es da draußen doch Zigaretten
       > gibt.
       
   IMG Bild: Wenig vorbildhaft: ohne Zigarette wollte Helmut Schmidt gar nicht sein
       
       Es ist Samstagmorgen, ich sitze in der Küche am Tisch, Jacke und Schuhe
       angezogen, und weiß, dass ich jetzt auf keinen Fall rausgehen darf. In
       meiner Tasche sind merkwürdigerweise exakt 9,80 Euro: gerade genug für eine
       Schachtel Zigaretten plus [1][das kleine Mentholpapierchen], das ich da
       immer reinstecke, um wie einst Helmut Schmidt trotz Rauchens fast hundert
       Jahre alt zu werden.
       
       Seit Dienstag habe ich bereits nicht mehr geraucht, und der dritte Tag ist
       immer der schlimmste – gestern Abend habe ich geweint und genau gewusst,
       dass ich meine Arbeit ganz und gar schlecht und sowieso eigentlich schon
       immer alles falsch mache und stets gemacht habe, dass mein Kind nur aus
       diesem Grund kürzlich auf einen anderen Kontinent ausgewandert ist und mein
       Liebster mich eigentlich nur noch deshalb supportet, weil ihm ja quasi
       nichts anderes übrig bleibt. Heimlich wünscht er sich wahrscheinlich längst
       mein baldiges Ableben.
       
       Was ich dagegen nicht mehr gewusst habe: Warum ich durch Nichtrauchen diese
       jämmerliche Existenz eigentlich noch verlängern will. Weiter zu rauchen
       erschien mir plötzlich irgendwie viel logischer, aber irgendwo – ich bin ja
       suchterfahren – war da doch noch dieser Gedanke: Das liegt bloß am dritten
       Tag! Halte durch. Morgen wird alles schon viel besser sein.
       
       Heute ist morgen, und es ist alles noch viel schlimmer geworden.
       
       ## Das Ziehen in meiner Lunge
       
       Ich bin krank, natürlich bin ich krank, ich werde immer krank, wenn ich
       versuche, mit dem Rauchen aufzuhören: Statt ohne das tödliche Gift einfach
       dankbar drauflos zu genesen, kapituliert der Körper vor dem Stress des
       Nikotinentzugs. Sämtliche Atemwege sind mit einer Masse aus getrocknetem
       Uhu gemischt mit Betonstaub verstopft, Einatmen ist plötzlich so mühsam,
       dass sich das Ausatmen jedes Mal anfühlt wie nach einer körperlichen
       Anstrengung. Das Ziehen in meiner Lunge fühlt sich ganz genau wie ein
       echter Trennungsschmerz an, und meine Haut sieht plötzlich aus, als hätte
       ich viele Jahrzehnte lang viel zu viel geraucht.
       
       Außerdem ist das gewohnte Piepsen in meinem Ohr auf das Mehrfache der
       üblichen Lautstärke angeschwollen. Wie durch Watte höre ich deshalb
       Reporter im Radio von Fufballfpielen reden, die einf fu fwei geendet haben,
       Bundefliga. Aber Fport intereffiert mich gerade nicht: Ich habe Hunger.
       
       Mein Liebster ruft an. Wie geht ef dir, fragt er. Ich habe Hunger, sage
       ich. Dann iff waf, sagt er. Aber ich habe doch eben erst gegessen! Und
       davor auch! Ich esse jetzt eigentlich den ganzen langen Tag! Iff noch waf,
       sagt er. Effen ift beffer alf rauchen.
       
       ## Nichtraucherinnenappetit wie bei einer Schwangeren
       
       Also gehe ich jetzt doch raus, gehe ohne auch nur einen einzigen
       Seitenblick am Zigaretten-Späti vorbei direkt zur Bäckerin. Mein
       Nichtraucherinnenappetit gleicht dem einer Schwangeren: Ich weiß ganz
       genau, was ich essen will, und meist ist das etwas, was ich sonst niemals
       esse. Und: Ich will viel davon. In der Bäckerei um die Ecke bestelle ich
       vier Berliner Pfannkuchen.
       
       Sechs Euro, sagt die Verkäuferin, ich kann plötzlich wieder klar und
       rauschfrei hören und blicke deshalb überrascht auf. Sie missdeutet das und
       glaubt, sich entschuldigen zu müssen: „Ja, es ist leider alles viel teurer
       geworden!“, sagt sie. Und dreht dann ihren Kopf schräg nach unten zur
       Seite, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt, für einen kurzen Moment
       der Besinnung ganz still.
       
       Dann strahlt sie mich plötzlich an: „Aber uns geht’s ja noch gut!“ Mein
       Gott, ja, denke ich, ohne dabei wirklich an Gott zu denken. Oh mein Gott,
       ja. Es geht mir gut.
       
       3 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /EU-Verbot-der-Mentholzigarette/!5684249
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Kolumne Die Fußgängerin
   DIR wochentaz
   DIR Rauchen
   DIR Nichtrauchen
   DIR Helmut Schmidt
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Endlich auch mal reich sein: Das hier fühlt sich doch gut an
       
       Es macht was aus, wenn man plötzlich viel Geld in der Tasche hat. Was für
       ein erhabenes, erhebendes, erhobenes Lebensgefühl, weiß unsere Kolumnistin.
       
   DIR Prekäre Jugend: Erlebnisräume hinter Paywalls
       
       Jede:r vierte Jugendliche in Berlin wächst in Armut auf. In den Blick
       geraten sie aber nur, sagt unsere Kolumnistin, wenn sie irgendwo zu doll
       stören.
       
   DIR Auch eine Frage zum Jahresende: Was geht?
       
       Begeisterung geht unserer Kolumnistin am Ende dieses Jahres ebenso ab wie
       Antworten. Es ist doch wirklich derzeit alles zu bizarr.
       
   DIR Routiniertes Älterwerden: Durch das Leben gehen
       
       War früher alles besser? Nein, grau steht mir mehr, meint unsere
       Kolumnistin. Aber in der alten BRD lächelte der Kapitalismus den
       Arbeitnehmern noch zu.
       
   DIR Berlin im Sommer: Drinnen und draußen
       
       Das Drinnen und das Draußen muss man sich jeweils erst leisten können.
       Gerade im Sommer, meint unsere Kolumnistin, ist Berlin eine zweigeteilte
       Stadt.
       
   DIR Personennahverkehr in Berlin: Er kann der Himmel und die Hölle sein
       
       Der Berliner ÖPNV ist Fluch und Segen. Es gibt schon Grund, ihn zu lieben.
       Aber er sollte die Gelassenheit der Kund*innen nicht überstrapazieren.
       
   DIR Das Miteinander in der Öffentlichkeit: Die Welt als Schlafzimmer
       
       Der öffentliche Raum als Zuhause, um das sich alle kümmern: könnte das
       nicht wunderbar sein? Aber zum Miteinander gehören halt auch die anderen.