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       # taz.de -- Wald und Stille: Vom Glück, schweigend spazieren zu gehen
       
       > Erwartet wird, dass permanent geredet werden muss, wenn Menschen zusammen
       > sind. Dabei ist es viel schöner, in Ruhe durch den Herbstwald zu laufen.
       
   IMG Bild: Still sein und laufen: Das geht mit Hunden leichter als mit Freund:innen
       
       Laub wirbelt auf, bei jedem Schritt knistert es unter den Füßen. Mit den
       Wanderstiefeln bringen meine Freundin und ich vertrocknete braune und gelbe
       Blätter zum Tanzen und kommen so auch selbst in Schwung. Es ist Herbst,
       Sonnenstrahlen fallen durchs lichte Blätterdach, und wir gehen im Wald
       spazieren. Wirklich – im Wald? Oder sind wir doch eher in einer Klinik?
       
       Nein, es ist nicht so, dass eine von uns humpelt oder ein steifes Knie
       hätte. Aber Freundin Melanie arbeitet in einer Reha-Klinik, und jetzt
       möchte sie sich auf dem Spaziergang mit mir unterhalten. „Meine Kollegin
       ist immer noch krank. Wie viele Überstunden soll ich denn noch machen?“,
       beschwert sie sich. Außerdem sind da ihr weiter Weg zur Arbeit und der neue
       Abteilungsleiter, der nicht leitet. „Ich frage mich, was macht der
       eigentlich bei uns?“
       
       Interessante Frage, ähem, zweifellos. Melanie ist meine Freundin und ich
       will ihr auch sicherlich zuhören. Aber muss das jetzt sein? Ausgerechnet
       hier, in diesem schönen Herbstwald, in dem wir uns unbeschwert bewegen und
       Kraft und Ruhe tanken könnten – wenn es denn ruhig wäre?
       
       Ich bin gerne draußen und liebe es, dabei zu gehen und zu schweigen.
       Kennengelernt habe ich das Wandern im Schweigen vor knapp zehn Jahren in
       Frankreich. Da organisierten britische und französische Buddhisten einen
       Dharma Yatra, einen Pilgerweg in fernöstlicher Tradition. Der Weg ist das
       Ziel, man steuert keine heiligen Stätten an, sondern möchte nur bewusst
       Schritte tun, die Sinne offen halten und wahrnehmen, was ist – in diesem
       Augenblick und an diesem Ort.
       
       Über hundert Menschen lebten auf dem Dharma Yatra sehr einfach in
       mitgebrachten Zelten, kochten und aßen zusammen und gingen in der großen
       Gruppe im Schweigen durch südfranzösische Berge, Wälder und Felder. Nach
       zehn Tagen kamen wir wieder in dem kleinen Dorf an, wo wir zuvor gestartet
       waren.
       
       „Könnten wir vielleicht eine Zeitlang schweigen, während wir gehen?“, frage
       ich Melanie, unsicher, wie sie dieses Ansinnen aufnimmt. „Zwanzig Minuten
       oder so?“
       
       „Hä? Wieso denn?“ Sie bleibt abrupt stehen, zieht die Augenbrauen zusammen.
       
       Nun gebe ich mein Bestes, ihr das Schweigen schmackhaft zu machen: Dass man
       dabei die Natur und ihre Schönheit intensiver wahrnimmt, mehr Abwechslung
       vom Alltag hat und besser entspannen kann – und wir über ihren Stress auf
       der Arbeit ja noch später, bei einer Tasse Kaffee, sprechen könnten. Meine
       Freundin lebt alleine ohne Partner:in und wir sehen uns nicht oft. Da
       kann es gewaltig schiefgehen, um Schweigen zu bitten. Sie könnte annehmen,
       dass ich sie und ihr Gerede langweilig finde. Aber ich treffe mich gerne
       mit Melanie, mag es, wie lebhaft sie mit vielen Gesten spricht. Ich freue
       mich, dass sie sich mit mir austauschen möchte.
       
       Aber es gibt auch die für mich leidige Konvention, dass permanent geredet
       werden muss, wenn Menschen zusammen sind. So, als wäre schweigen peinlich
       und jede Lücke im Gespräch zu vermeiden, weil sich da zeigen könnte, dass
       man sich nichts zu sagen hat. Gott sei Dank trifft das auf uns beide nicht
       zu. Melanie ist zwar ein im Schweigen ungeübter, aber aufgeschlossener
       Mensch. „Okay“, sagt sie trocken zu meinem Vorschlag. Sonst nichts.
       
       Plötzlich ist es ruhig. Ich höre meinen Atem und spüre, wie gepresst er
       ist. Aber nach und nach finde ich meinen Rhythmus. Einatmen, drei Schritte
       machen, ausatmen, drei Schritte machen, einatmen, drei Schritte … so bringe
       ich Atem und Bewegung in stimmigen Takt.
       
       Die schweigsame Gleichförmigkeit beruhigt und entspannt mich. Abgefallene
       Zweige knacken unter meinen Füßen. Brombeerranken verheddern sich einige
       Male am Saum meiner Jeans. Aber das ist mir egal. Ein Duft von feuchter
       Erde und Pilzen hängt in der Luft. Auf Baumstümpfen wuchern Moose, Farn und
       Hasenklee in verschiedenerlei Grüntönen. Goldgelbe Blätter rieseln von den
       Bäumen. Meine Schultern sinken nach unten, ich genieße die Kraft in meinen
       Beinen und schreite aus.
       
       Nur mein Kopf hat es schwer, frei zu werden. Da taucht wieder der Ärger
       über den Nachbarn auf. Puuuh, der fühlt sich gestört, dass Kastanienblätter
       von unserem Garten in seinen Carport wehen. Beim Finanzamt müsste ich
       anrufen, morgen, möglichst früh! Und ich sehe die schwarzen Schlieren von
       Pilzbefall an den Baumrinden der Buchen. Der Pilz wird sie vom Stamminnern
       her zerstören. Ein Seufzer entfährt mir. Auch das ist eine der Folge der
       steigenden Temperaturen durch die Erderhitzung. Wie soll das mit uns nur
       weitergehen?, schießt es mir durch den Kopf. Nicht grübeln jetzt!, ermahne
       ich mich. Bleibe dabei! Einatmen drei Schritte, ausatmen drei Schritte,
       schauen, lauschen, riechen. Jetzt nur das.
       
       „Sind die zwanzig Minuten um?“ Plötzlich ist Melanies Stimme wieder an
       meinem Ohr.
       
       „Glaub schon“, sage ich überrascht. Ich frage, wie das Schweigen für sie
       war.
       
       „Am Anfang etwas komisch, aber dann eigentlich gut. Mal die Klappe halten,
       das ist okay.“ Aber jetzt sollten wir doch hier an der Weggabelung nach
       rechts abbiegen. „Da wollten wir doch hin, oder?“
       
       Am Weg steht ein Hinweisschild. Noch 800 Meter bis zum nächsten Gasthaus,
       wo es Kaffee gibt. Nicht zu vergessen: auch zwei Stücke Kuchen und ein
       Gespräch.
       
       16 Nov 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gunhild Seyfert
       
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