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       # taz.de -- Urteil im Diesel-Skandal: Erstmals ist hierzulande die Natur im Recht
       
       > Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung in Dieselautos schädigen
       > nicht nur den Käufer, sondern auch die Natur. Das hat ein Erfurter
       > Gericht entschieden.
       
   IMG Bild: Die „Rechtsperson Natur“: Lurche und Bienen könnten künftig gegen den Einsatz tödlicher Pestizide durch Chemiefirmen vorgehen
       
       Berlin taz | Es ging am Landgericht Erfurt eigentlich nur um den
       Dieselskandal. Und doch könnte das Urteil Rechtsgeschichte in Deutschland
       schreiben. „Zum ersten Mal hat hierzulande ein Gericht im Sinne der ‚Rechte
       der Natur‘ geurteilt“, sagt Tilo Wesche, Professur für Praktische
       Philosophie an der Universität Oldenburg.
       
       Gemeint ist ein Rechtsverständnis, nach dem nicht nur Menschen geschützt
       sind gegen Übergriffe auf ihre Person, sondern auch Ökosysteme wie Flüsse,
       Wälder, Teiche oder Moore mit ihren Tieren. „Diese Rechte der Natur sind …
       von Amts wegen … zu berücksichtigen“, heißt es in der schriftlichen
       Urteilsbegründung, die jetzt vorliegt.
       
       Es geht um einen BMW 750 D X-Drive, in dem ohne Wissen des Käufers eine
       Abschalteinrichtung installiert worden war. Dieses im Fachjargon genannte
       „Thermofenster“ sorgt dafür, dass der Ausstoß von schädlichen Stoffen in
       den Abgasen eben nicht gesenkt wird, wie gesetzlich eigentlich
       vorgeschrieben. Der Kläger hatte moniert, dass das von ihm erworbene Auto
       deshalb weniger wert sei und auf Schadenersatz geklagt. Dieser wurde ihm
       vom Landgericht Erfurt auch zugesprochen.
       
       Allerdings fällt die Entschädigung höher aus, eben weil die illegal
       eingebaute Abschalteinrichtung nicht nur den Kläger, sondern auch die Natur
       geschädigt hat. „Die Anerkennung von spezifischen Rechten ökologischer
       Personen … ist aufgrund der Wichtigkeit und Dringlichkeit der ökologischen
       Herausforderungen – Klimawandel, Artensterben und Globalvermüllung – und
       angesichts drohender irreversibler Schäden geboten“, heißt es in der
       Begründung.
       
       ## Weiterreichende Bedeutung
       
       Das Urteil könnte von großer Bedeutung sein. „Mit großer Wahrscheinlichkeit
       wurde in einer unscheinbaren Verhandlung eines Erfurter ‚Dieselfalls‘ ein
       juristischer Samen gesetzt, der Früchte tragen wird“, formuliert Christine
       Ax, Vorständin des Netzwerks Rechte der Natur: Wenn diese Rechtspraxis
       Bestand hat, könnten „Anwälte der Natur“ gegen die Einleitung von
       Chemikalien in die Oder klagen, gegen das Abholzen des Hambacher Forstes,
       gegen das Abschmelzen von Gletschern oder gegen zu viel Dünger auf den
       Feldern, der Grundwasser und Meere verseucht.
       
       „Das juristische Konzept ist nicht neu“, sagt Philosophieprofessor Tilo
       Wesche. In Südamerika gibt es etliche Länder, die die „Rechte der Natur“
       festgeschrieben haben, in ihrer Verfassung oder in der Rechtspraxis. In
       Spanien erklärte das [1][Parlament die Lagune Mar Menor zur Rechtsperson],
       sie kann damit Verschmutzer verklagen. Auch für den Klimaschutz haben
       Klagen immer wieder etwas gebracht, beispielsweise urteilte 2021 das
       deutsche Verfassungsgericht, dass [2][die aktuelle Politik die Rechte
       künftiger Generationen verletzt]. „Neu ist, dass die Rechte der Natur von
       einem deutschen Gericht zum ersten Mal anerkannt wurden“, sagt Wesche.
       
       ## Deutsches Neuland
       
       Freilich hat das Urteil ein paar Haken. Es ist erstens zwar rechtskräftig,
       kann aber vor der übergeordneten Instanz angefochten werden – falls die
       Beklagten das anstreben. Zweitens kommt das „Mehr an Entschädigung“ nicht
       der Natur zu Gute – außer der Kläger würde es einem Naturschutzprojekt
       spenden. Drittens ist diese Rechtsauffassung bislang in Deutschland
       Neuland.
       
       „Artikel 14, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes gibt das allerdings
       absolut her“, argumentiert Tilo Wesche. Der kürzeste Absatz der deutschen
       Verfassung besagt: „Eigentum verpflichtet.“ Diese Pflicht, so Wesche,
       bestehe auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit: „Wirtschaften oder anderes
       Handeln kann eben nicht bedeuten, dass andere Lebenswesen wie Tiere oder
       Pflanzen darunter zu leiden haben.“
       
       Bedrohte Lurche oder Bienen, die künftig gegen [3][tödliche Pestizide von
       Chemiefirmen] klagen können – dass das Urteil in Erfurt so ausgefallen ist,
       liegt möglicherweise auch an dem Vorsitzenden Richter: Martin Borowsky ist
       ein anerkannter Experte der EU-Grundrechtscharta. Aber Borowsky ist mit
       dieser Charta kein Einzelkämpfer. „Die Gründe, mit denen das Urteil die
       ‚Rechtsperson Natur‘ als juristisch gegeben darlegt, wird von weiteren
       anerkannten Experten geteilt“, erklärt Christine Ax. Philosophieprofessor
       Wesche erhofft sich durch [4][das Urteil] eine „öffentliche Diskussion“.
       Richter könnten nur geltendes Recht auslegen. Dies aber würde von der
       Politik gemacht. Wesche: „Wichtig ist deshalb, eine Mehrheit für die
       ‚Rechte der Natur‘ innerhalb der Gesellschaft zu organisieren“.
       
       24 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rechte-der-Natur-in-Spanien/!5924146
   DIR [2] /70-Jahre-Bundesverfassungsgericht/!5799804
   DIR [3] /Bundesrat-beschraenkt-Ackergift-weiter/!6017254
   DIR [4] https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=LG%20Erfurt&Datum=02.08.2024&Aktenzeichen=8%20O%201373%2F21
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nick Reimer
       
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