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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Gemeinschaft macht Mut
       
       > Fotografieren hat Kati Wendel gezeigt, dass sie mehr kann als arbeiten
       > und Mutter sein. Dann bekam sie Krebs und verbündete sich mit
       > Betroffenen.
       
   IMG Bild: Kati Wendel mit ihrer Kamera
       
       Brustkrebs. Diese Diagnose hat Kati Wendels Leben auf den Kopf gestellt.
       Weil die Schwerinerin dachte, dass die Erkrankung das Leben anderer
       Betroffener bestimmt [1][ebenso durcheinander bring]t, hat sie nach ihnen
       gesucht.
       
       Draußen: Das Areal der ehemaligen Brauerei Schall & Schwencke von 1872
       liegt am Ufer des Schweriner Ziegelinnensees. Ganz in der Nähe wohnt Kati
       Wendel. Lange Zeit lag das Areal brach. Seit gut zehn Jahren entstehen in
       den teils historischen Industriegebäuden schicke Wohnungen. Ein neues
       Stadtquartier haben die Planer*innen im Sinn, mit Kindergarten, Büros
       und Läden. Noch braucht, wer hier vorbeikommt, einige Phantasie, um sich
       das vorzustellen. Immerhin, der Spielplatz ist schon da. An dem kommt Kati
       Wendel vorbei, wenn sie sich aufmacht und ihre Runde um den See läuft oder
       ihr rosa-weißes [2][Stand-up-Paddel-Board] zum Ufer trägt.
       
       Drinnen: Die graue Einbauküche war schon drin, als sie 2017 einzog. Sie hat
       ihre Einrichtung darauf abgestimmt. Grau-Schwarz-Weiß. Klare Linien. Große
       Fensterfront. Wenn sie könnte, würde sie alles neu machen. „Ich mag
       Blümchentöne.“ In ihrem Schlafzimmer ist es bunt. An der Wand hat sie Fotos
       ihrer Liebsten aufgehängt. „Aber im Moment habe ich andere Prioritäten.“
       Das SUP-Board hängt nach der Tour auf dem Balkon. Sehen kann sie den
       Ziegelinnensee von hier aus nicht, aber sie weiß, er ist nur eine
       Häuserzeile weit entfernt.
       
       DDR-Jugend: Wendel ist 48. Ihre Tochter 24. Als die DDR verschwand, ging
       sie in Schwerin zur Schule. Ein Pioniertuch hatte sie noch, aber FDJlerin
       ist sie nicht mehr geworden. „Ich habe da nur wenig Erinnerungen. Ich war
       glücklich und mir hat nichts gefehlt. Im Trabant sind wir nach dem
       Mauerfall nach Mölln. Papa, Opa, Oma, ich. In den Geschäften hat alles so
       schön gerochen.“
       
       Nach der Schule: Zehn Jahre geht sie zur Schule und lernt anschließend
       Versicherungskauffrau. Sie zieht mit ihrem Freund zusammen. Nach der Lehre
       hätte sie in den Außendienst gehen können. „Mit 19 Jahren? Wer hätte mich
       in dem Alter denn ernst genommen?“ Deshalb arbeitet sie fortan in einem
       Call Center der Bahn. „Der Fahrkartenverkauf im Schichtdienst war nicht die
       Erfüllung. Aber wir haben gemacht, was ging. Gearbeitet, gewohnt, gelebt.
       Meine Tochter war ein Wunschkind.“ Seit zehn Jahren arbeitet sie nun
       woanders, in der Finanzbuchhaltung. „Ein Glücksfall.“
       
       Fotografie: Als ihre Tochter ungefähr zwölf Jahre alt ist, beginnt sie mit
       ihrem Handy Fotos zu machen. „Sie hatte eine Schnecke fotografiert und ich
       habe gesehen, sie hat ein Auge dafür. Wir haben ihr eine Kamera geschenkt.
       Die aber ist im Schrank gelandet.“ Ende 2016 nimmt Wendel die verschmähte
       Kamera selbst in die Hand, besucht einen Fotokurs und macht Porträts. Von
       ihrer Tochter, von ihren Freundinnen, von den Kolleginnen ihrer
       Freundinnen. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Feedback
       gekriegt, dass ich etwas gut kann. Die ganzen 40 Jahre davor habe ich
       gedacht: Mein Gott, was bin ich für ein hobbyloses Kind.“ Dann sei etwas in
       ihr geplatzt. „Ich habe gemerkt, es gibt noch etwas anderes, als von der
       Arbeit nach Hause kommen und dann Mutti sein. Ich will nicht falsch
       verstanden werden. Meine Tochter war und ist mir ganz wichtig.“ Inzwischen
       aber gebe es noch ein paar Dinge mehr in ihrem Leben. Ausgelöst durch einen
       Schock.
       
       Die Diagnose: Sie hat Brustkrebs. Im April 2022 erfuhr sie davon. „Ich habe
       mich gefragt: Muss ich jetzt sterben?“ Sie habe niemanden gekannt, der
       schon einmal Krebs hatte, „niemanden, den ich hätte fragen können“. Es
       dauerte, bis sie ihren „Fahrplan“ zur Behandlung bekam: zuerst die OP, dann
       Chemotherapie, schließlich Bestrahlung. „Ich hatte unglaublich Angst vor
       dem Tag, an dem die Chemo begann. Ich hatte noch nie einen Menschen mit
       einer ‚Chemo-Glatze‘ gesehen und wollte damit nicht alleine sein. Darum
       habe ich das öffentlich gemacht.“
       
       Öffentlichkeit: Auf Facebook ist Kati Wendel privat, dort informiert sie
       Bekannte, Freunde und Familie über ihre Erkrankung. Auf Instagram ist sie
       durch ihre Fotografie präsent, viele ihrer Follower*innen sind
       Bekannte. „Ich wollte einfach, dass die Leute wissen, was los ist, wenn sie
       mich mit einem Kopftuch oder einer Perücke auf der Straße sehen. Anfangs
       habe ich das mit dem Krebs in den Hashtags versteckt. Aber im Juli hab ich
       dann auch auf Instagram ganz klar gesagt, was los ist. Ich habe das ein
       bisschen aus Selbstschutz gemacht.“
       
       Gefährtinnen: Jede achte Frau in Deutschland erkrankt an Brustkrebs. Im
       Durchschnitt mit Mitte 60. Kati Wendel ist Mitte 40. „Ich habe mir eine
       Gesprächspartnerin [3][in meinem Alter] gewünscht. Eine, die das kennt, die
       das alles durchgemacht hat oder mit mir gemeinsam da durch geht.“ Kurz
       nachdem sie sich auf Instagram als Betroffene outet, meldet sich Susi bei
       ihr. Wendel folgt der Fotografin schon eine Weile. Und nun hat auch Susi
       die Diagnose Brustkrebs.
       
       Der Austausch: Die beiden Frauen schreiben sich, tauschen die
       Telefonnummern aus, treffen sich. Mit dabei ist auch Anka. Die langjährige
       Freundin von Susi erkrankte während der Coronazeit ebenfalls an Brustkrebs.
       Auch Anka hat ihre Erkrankung öffentlich gemacht. „Du weißt nie, wie gut du
       dabei wegkommst, was die Krankheit mit dir macht. Und da ist der Austausch
       untereinander unglaublich wertvoll“, meinen die Frauen übereinstimmend.
       
       Mut machen: Wenige Wochen später war klar: Sie brauchen ein Netzwerk. „Wir
       wollten, dass an Brustkrebs erkrankte Frauen nicht alleine sind.“
       Freund*innen und Angehörige könnten oft nicht verstehen, was einer Frau
       mit Brustkrebs wirklich zu schaffen mache. „Wir wollen Menschen mit diesem
       Schicksal zusammenbringen, die darüber reden können. Die andere weiß doch,
       wie du dich fühlst, welche Gedanken dir durch den Kopf gehen, welche Ängste
       du durchmachst. Es geht an den Körper, es geht an die Psyche, es
       beschäftigt dich Tag und Nacht.“ Als „Schwerins Mutmacherinnen“ treffen sie
       sich im Dezember 2022 zum ersten Mal.
       
       Geschnatter: „Es gibt keine Lebenslage, in die so eine Diagnose reinpasst.
       Es ist für alle der absolute Schock.“ Auch wenn es oft gute Heilungschancen
       gibt, spiele der Tod immer eine Rolle. Und dennoch: „Wenn wir uns am
       letzten Donnerstag eines Monats treffen, dann jammern wir nicht. Meist ist
       es ein wildes Geschnatter und wir sind im Lokal immer die letzten.“
       
       Die Gruppe: Mittlerweile sind sie rund 50 Frauen und [4][ein Mann]. Es
       haben sich kleinere Untergruppen gebildet, die gemeinsam etwas unternehmen,
       [5][sich gegenseitig unterstützen]. Mal geht es dabei um Fragen der
       Ernährung, oft geht es um Ermutigung – und oft um Sport. Gemeinsam walken,
       Muskeltraining machen, nach der Reha langsam die Leistung wieder steigern.
       Über sich hinauswachsen.
       
       Grenzen verschieben: Einige von ihnen sind inzwischen wieder sehr fit, sind
       beim 30-Kilometer-„Heldenmarsch“ durch Schwerin dabei, andere robben beim
       „Muddy Angel Run“ durch den Schlamm und steigen hinterher unter die
       eiskalte Dusche. „Das ist ungeheuer emotional, gemeinsam so etwas zu
       schaffen und die Freude darüber mit den anderen zu teilen“, schwärmt Kati
       Wendel. Und fügt hinzu: „Der Krebs hat mir gesagt: So, du musst jetzt mal
       etwas intensiver auf dich achten. Ich verfluche den Krebs nicht. Er hat mir
       so schöne Momente beschert, die Frauen, die ich kennengelernt habe, die
       Dinge, die ich jetzt anpacke und zum ersten Mal mache, das kam ja alles
       durch den Krebs.“ Dadurch sehe sie, was sie alles schaffe. „Er hat mir die
       Augen geöffnet: So geht das Leben und nicht anders.“
       
       26 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Oellerking
   DIR Kati Wendel
       
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