# taz.de -- Lehren aus den US-Wahlen: Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
> Die US-Demokraten haben ihre Wählerschaft verloren und die Wählerschaft
> ihre Partei. Nach dem Wahlergebnis muss sich die Partei neu aufstellen.
IMG Bild: Unterstützer:innen von Kamala Harris, während sie mit einer Rede am 6. November ihre Niederlage gegen Donald Trump einräumt
Zwei Zahlen werden sich die US-Demokraten nach der Wahl von Donald Trump
ganz besonders einprägen müssen: 91 und 86. 91 Prozent der Wähler.innen,
die nach der Wahl angegeben haben, die Wirtschaft sei in exzellentem oder
gutem Zustand, verorten sich bei den Demokraten. Von denjenigen hingegen,
die die Lage der US-amerikanischen Wirtschaft als schlecht beurteilen,
bezeichnen sich 86 Prozent als Wähler.innen der Republikaner. Die beiden
Zahlen markieren eine paradox erscheinende Verschiebung in der US-Politik.
Ausgerechnet die Republikaner, die [1][Partei der Reichen], die für
ökonomische Deregulierung und sozialpolitischen Kahlschlag steht, sind
unter Donald Trump zur Partei der einfachen Leute geworden. Von den Weißen
ohne College-Abschluss versammeln sich rund 60 Prozent hinter ihm, bei den
weißen Männern ohne College-Abschluss sind es sogar fast 70 Prozent. Und
die einstige Partei der Arbeiter.innen, der Linken von Franklin D.
Roosevelt und großer Sozial- und Arbeitsprogramme, ist zur [2][Partei des
wirtschaftlichen Wohlstands und gut ausgebildeter Eliten] geworden.
Die Entfremdung von den nicht-akademischen traditionellen weißen Teilen der
Bevölkerung spiegelt sich im Wahlergebnis. Gewiss, Kamala Harris war
offenkundig die falsche Kandidatin. Und Harris hat auch deshalb verloren,
weil die USA nicht bereit sind, eine Frau ins Weiße Haus zu wählen, noch
dazu eine Schwarze.
Der größte Anteil der Trump-Wähler:innen hat problemlos für einen
rassistischen, demokratieverachtenden, mit Elementen des Faschismus
spielenden Mann gestimmt. Sie [3][wollten genau dies und diesen im Weißen
Haus: als starken Anführer.] Dass sie ihre eigene wirtschaftliche Lage als
schlecht beurteilen, mag also nicht das Hauptmotiv aller gewesen sein. Nur
relativiert das nicht den Befund, dass der US-Arbeiterklasse und der
unteren Mittelschicht ihre Partei abhanden gekommen ist – und umgekehrt.
Im Moment üben sich die Demokraten noch im Spiel der Schuldzuweisung. Joe
Biden sei schuld: Sein Rückzug kam viel zu spät. Kamala Harris sei schuld:
Sie konnte kein wirtschaftspolitisches Profil entwickeln. Tim Walz sei
schuld: Er hat als Mann des einfachen Volks nicht geliefert. Wenn die
Schuld ausreichend genug verteilt ist, [4][werden die Demokraten
diskutieren, wie sie die verlorenen Wähler.innen wieder zurückgewinnen]
können. Dabei wäre eine viel grundlegendere Frage zu klären: Wie sieht eine
emotionale, linke, wenigstens sozialdemokratische, vielleicht sogar
sozialistisch angehauchte Politik in einer globalisierten Welt aus?
## Es gibt Lösungen
Die Klärung dieser Frage ist keine exklusive Aufgabe der US-Demokraten. Auf
die Arbeitsplatzverlagerungen, Freihandelszonen und Deregulierungen im Zuge
der Globalisierung hat kaum eine demokratische linke(re) Volkspartei des
Westens eine erfüllende Antwort. Genauso wenig, wie auf die zunehmend
ungleiche Verteilung des Wohlstands. Dabei warnen linke Ökonomen seit
Jahrzehnten vor der größer werdenden sozialen Spaltung und den
gesellschaftlichen Folgen. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat
aufgezeigt, dass heute vornehmlich aus Kapital mehr Vermögen entsteht,
nicht durch eigene Arbeit, vulgo: Wer hat, dem wird gegeben. Wer nichts
hat, hat kaum eine Chance auf Vermögen. Dagegen fordert Piketty radikale
Steuerreformen.
Der frühere US-Arbeitsminister Robert Reich argumentiert, dass es
politische Entscheidungen sind, die den Wohlstand von unten nach oben
verlagern. Er verlangt eine Stärkung der Gewerkschaften, höhere
Mindestlöhne und Vermögen- und Erbschaftsteuern. Der
Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz erkennt im Wohlstandsverlust
der Mittelschicht ein demokratisches Problem und drängt auf progressive
Steuersysteme, Bildungsinvestitionen, stärkere Arbeitnehmerrechte. Es gibt
also Ansätze, ein linkes Gerechtigkeitsversprechen glaubhaft zu
formulieren, ohne auf rassistische oder nationalistische Versprechen
zurückzugreifen. Bernie Sanders, der viele dieser Positionen teilt, war und
ist übrigens der einzige Demokrat, der annähernd eine Begeisterung von
links entfachen konnte – wie Trump von rechts.
Wenn in Deutschland demnächst Neuwahlen stattfinden, werden sich auch die
Sozialdemokraten mit dieser Frage auseinandersetzen müssen. Und das ein
wenig grundsätzlicher, als sie es mit Olaf Scholz’ Respektkampagne im
Wahlkampf 2021 vorgeführt haben. Den Respekt der Arbeiterschaft und der
unteren Mittelschicht muss sich die Sozialdemokratie erst wieder verdienen.
Sonst wird auch in Deutschland eine fortschreitende Amerikanisierung der
Politik zu beobachten sein: Die Verlierer der gesellschaftlichen
Entwicklung werden nicht mehr links, sondern rechts wählen.
10 Nov 2024
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## AUTOREN
DIR Barbara Junge
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