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       # taz.de -- Nach den Wahlen in Ostdeutschland: Zivilgesellschaft, was nun?
       
       > Diese Menschen haben engagiert für die Demokratie gekämpft, doch die
       > Wahlerfolge der AfD konnten sie nicht verhindern. Wie geht es weiter?
       
   IMG Bild: Proteste gegen die AfD in Gotha, Februar 2024
       
       „Nutzt endlich TikTok, liebe Politiker:innen!“
       
       Susanne Siegert, 32, klärt bei TikTok und Instagram
       ([1][@keine.erinnerungskultur]) über Naziverbrechen auf. Bei TikTok folgen
       ihr knapp 200.000 Leute.
       
       Wenn demokratische Politiker:innen [2][TikTok die Schuld dafür geben],
       dass junge Menschen die AfD wählen, ärgert mich das. Es stimmt, junge Leute
       verbringen viel Zeit auf der Plattform und die AfD platziert dort [3][ihre
       Inhalte besonders gut]. Aber warum fangen Demokrat:innen nicht endlich
       an, die Plattform für sich zu nutzen? Wenn Olaf Scholz in einem
       TikTok-Video seine Aktentasche auspackt oder Markus Söder einen Döner isst,
       dann ist das peinlich. Das nimmt junge Leute nicht ernst.
       
       Vor vier Jahren habe ich begonnen, in den sozialen Medien über
       Naziverbrechen aufzuklären. Ich beleuchte kleine Aspekte: Essensrationen im
       KZ, Abtreibungen im Lager oder die Geschichte einzelner Häftlinge,
       unterlege sie mit Recherche, Fotos und Originaldokumenten. In eineinhalb
       Minuten vermittle ich Wissen über den Holocaust und dafür bekomme ich viel
       positives Feedback. Mir ist klar, dass ich damit niemanden davon abbringe,
       die AfD zu wählen. Aber wenn ich es schaffe, Naziverbrechen auf TikTok zu
       behandeln, dann ist das auch [4][mit politischen Inhalten möglich].
       
       Politiker:innen könnten ihre Konzepte bei TikTok gut vermitteln. Dafür
       braucht es keine perfekten Videos. Wichtig ist, dass jedes Video eine
       Botschaft hat, die sich in einem Satz sagen lässt. Die Sprache muss einfach
       sein, aber nicht naiv. Wie man ein Video schneidet, ob es Musik braucht
       oder Untertitel, hat man schnell raus. Und: So ein Video steht nie für
       sich. Die Community will diskutieren, hat Fragen oder Kritik. Sich dem zu
       stellen, gehört auch dazu. Protokoll: Anne Fromm
       
       „Wir müssen auch mit dem BSW reden“
       
       Katharina König-Preuss ist Landtagsabgeordnete der Linken in Thüringen.
       
       Es wäre ein Fehler, den Staat jetzt aus der Verantwortung zu lassen und
       alle Kapazitäten darauf zu verwenden, eigene Finanzstrukturen aufzubauen.
       Der Druck auf den Staat muss bleiben. Damit er [5][weiter
       Demokratieprojekte fördert]. Damit er gegen Beamte, Polizisten oder
       Staatsanwälte, die AfD-Mitglieder sind, vorgeht. Wir sollten den Staat
       immer wieder daran erinnern, wozu ihn das Grundgesetz verpflichtet: die
       Menschenwürde aller zu achten und zu schützen. Und das gilt in
       Ostdeutschland momentan eben leider nicht mehr überall.
       
       Wie bekommen wir diesen Druck hin? Eigentlich ganz klassisch: Demos,
       Kundgebungen, Petitionen. Wenn Letzteres im Parlament eine Rolle spielen
       soll, dort besprochen werden soll, dann bitte über die Plattformen des
       Staates, also die der Landtage oder des Bundestags – alles andere wird
       nicht ernst genommen. Und was verrückterweise funktioniert, sind Briefe.
       Gezielt zuständige Abgeordnete anschreiben und nachhaken: Was ist in den
       Koalitionsgesprächen mit der Demokratieförderung? Was machen eure Leute da?
       Und bei aller völlig berechtigten Kritik an dieser Partei: Wir müssen auch
       mit dem BSW reden und versuchen, zu den vernünftigen Leuten dort
       Gesprächskanäle zu finden, um unsere Interessen zu übermitteln.
       
       Und was den Initiativen hilft: Demosupport vor Ort und Geld. Veranstaltet
       bei euch Solipartys für die Arbeit der ostdeutschen Projekte. Fragt die
       Initiativen, was sie brauchen! Sie wissen es alle ganz genau. Protokoll:
       Konrad Litschko
       
       „Demokratie retten geht nur mit Leuten vor Ort“
       
       Michael Nattke ist Geschäftsführer des Kulturbüros Sachsen e. V.
       
       In den Kommunen gibt es so tolle Engagierte und Projekte, die sich für die
       Demokratie reinhängen – statt da jetzt ganz neue Strategien zu entwerfen,
       ist es erst mal wichtig, diese Strukturen zu sichern. Nicht erst seit
       diesen Wahlen stehen sie gerade im ländlichen Raum unter enormem Druck,
       sind permanenten Anfeindungen ausgesetzt. Die Weiterfinanzierung dieser
       ohnehin unterfinanzierten Projekte muss jetzt oberste Priorität haben. In
       Sachsen wurden zuletzt bereits Projekte im Bereich Integration und
       Migration gestrichen, der Dachverband sächsischer
       Migrant*innenorganisationen musste Insolvenz anmelden, weil es
       neue Vorgaben gab. Deshalb appelliere ich nun eindringlich an die
       Bundesregierung, zumindest für die Projekte, die eine Bundesförderung
       erhalten, hier schnell klare Zusagen für eine Weiterfinanzierung zu
       erteilen.
       
       Und ich warne davor, dass die Parteien, die jetzt in Thüringen, Sachsen und
       Brandenburg Regierungen verhandeln, die Demokratiearbeit zur
       Verhandlungsmasse machen oder gar zerschlagen. In den vergangenen Jahren
       sind vielfältige demokratische Projekte im Osten entstanden – wenn das
       alles wegfällt, wäre es eine Katastrophe für diese Regionen. Welche
       Anlaufstellen bleiben dann noch für Demokratiearbeit und Bildung? Wer steht
       Betroffenen von rechter Gewalt zur Seite? Wer Asylsuchenden? Fielen die
       zivilgesellschaftlichen Projekte weg, wäre einfach keiner mehr da.
       Demokratie retten – das geht aber nur mit Leuten vor Ort, die sich
       dauerhaft einbringen. Daneben müssen wir auch mehr Unabhängigkeit bei der
       Finanzierung unserer Projekte hinbekommen.
       
       Derzeit werben wir für private Fördermitgliedschaften. Wir müssen zudem
       Spenden akquirieren, auch kleine Beträge helfen. Aufholbedarf gibt es bei
       privaten Stiftungen, auch hier wäre mehr Unterstützung sehr wichtig. Damit
       die Projekte nicht jedes Mal um ihre Existenz kämpfen müssen, wenn
       Mehrheitsverhältnisse kippen. Protokoll: Konrad Litschko
       
       „Freiheit zu leben heißt Spaß zu haben“
       
       Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, geboren in Ostberlin, Publizist und
       Historiker mit Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur. Von 1995 bis 1998
       Mitglied der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im
       Prozess der deutschen Einheit“ des Deutschen Bundestags.
       
       Die Freiheitsrevolution von 1989 befreite mich – von meinen Ängsten, meinen
       Rücksichtnahmen, meinem Opportunismus, meiner Feigheit, meinen
       Kompromissen, meinem Mitläufertum, meiner Zaghaftigkeit. Ich wäre gern vor
       1989 mutiger gewesen. Ich kann es nicht mehr ändern, dass ich ein Angsthase
       war.
       
       Die Freiheitsrevolution lehrte mich etwas für den Rest meines Lebens, was
       ich in der Unfreiheit nicht schaffte: Freiheit auszuleben, freiheitlich zu
       leben, Tag für Tag. Freiheit hängt von mir, nicht von irgendjemand anderem
       ab. Freiheit heißt, sich einzumischen in die Angelegenheiten, die einen
       betreffen, und Verantwortung zu übernehmen. Nicht zu delegieren und auf
       andere zu warten, selbst das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen.
       Niederlagen einzukalkulieren und nicht als Niederlagen anzusehen, sondern
       als Lernerfolge.
       
       1989 lehrte mich noch etwas, was uns heute vielleicht besonders fehlt:
       Freiheit zu leben heißt Spaß zu haben, Freude zu bereiten, zu lachen – über
       die Umstände, die Dummköpfe, über sich selbst. Die Revolution von 1989
       richtete sich auch gegen spaßbefreite Funktionäre. Egal worum es geht: Spaß
       und Freude sollten dazugehören. Das lernte ich im Herbst 1989. Ilko-Sascha
       Kowalczuk
       
       „Sacharbeit und Argumente reichen nicht“
       
       Marco Wanderwitz, 48, Rechtsanwalt, ist seit 2002 Bundestagsabgeordneter
       der CDU aus dem sächsischen Erzgebirge. Er war bis 2021 Ostbeauftragter der
       Bundesregierung.
       
       Wir versuchen seit Jahren, die AfD politisch kleinzukriegen, aber sie wird
       immer stärker. Wenn das so weitergeht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis
       wir im Osten einen AfD-Ministerpräsidenten haben, gewählt mit einer
       absoluten Mehrheit seiner Partei. Ich will das nicht erleben.
       
       Was AfD-Politik bedeutet, erfahre ich hier in Sachsen jeden Tag: Da sollen
       andere Parlamentarier gejagt werden, man wird auf Veranstaltungen
       niedergeschrien. Es wird 24/7 gegen Migranten und Minderheiten gehetzt. In
       Brandenburg wurde auf der AfD-Wahlparty eine millionenfache Remigration
       gefordert – bei rund 44.000 vollziehbar ausreisepflichtigen Personen
       bundesweit. Die Partei will selbst Menschen, die in der dritten Generation
       in Deutschland leben, die Pässe wegnehmen. Die AfD wünscht sich eine
       „national befreite Zone“, sie ist rechtsextrem. Immer geht es gegen die
       liberale Demokratie. Einen Systemsprenger kann man aber nicht mit
       Sacharbeit und Argumenten stellen.
       
       Ich sehe keinen anderen Weg mehr als ein AfD-Verbot. Das Grundgesetz hält
       ein Parteiverbot als Instrument der wehrhaften Demokratie aus historischen
       Gründen vor. Bei der NPD hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, die
       Partei sei verfassungswidrig, aber zu machtarm, um die Demokratie zu
       gefährden. Bei der AfD ist das längst anders. Ich sehe auch nicht, dass ein
       Verbotsverfahren in Gänze scheitern würde. Zumindest ein Verbot der
       besonders extremistischen Landesverbände im Osten sowie der
       Jugendorganisation JA und/oder einen Ausschluss aus der staatlichen
       Parteienfinanzierung betrachte ich als sicher.
       
       Nach einem AfD-Verbot würden wir deren Wähler kaum alle mal eben
       zurückholen. Aber es gäbe wieder die Chance, diese Menschen zu erreichen,
       wenn sie nicht ständig mit rechtsextremer Propaganda vollgepumpt werden.
       Die Demokratie bekäme eine Atempause. Protokoll: Konrad Litschko
       
       „Die Menschen wollen Kontakt, sie wollen gesehen werden“
       
       Lars Katzmarek (SPD), Bergmann und Rapper, holte bei den Landtagswahlen in
       Brandenburg mit 38 Prozent das Direktmandat für seine Partei und besiegte
       den AfD-Kandidaten.
       
       Eigentlich war das Ding nicht zu schaffen. Im Wahlkreis 44 von Brandenburg,
       Randlage von Cottbus bis hin zur Bahnhofs- inklusive Unigegend, wollte ich
       gegen einen AfD-Mann antreten, der das Direktmandat 2019 holte. So sagten
       wir uns: „Gib Gummi“ – [6][und das hieß: Haustürwahlkampf]. Wir haben weit
       über 2.000 Haushalte abgeklappert, auch in die Platte haben wir uns
       getraut. Öfters ist uns die Tür vor der Nase zugeknallt worden, Hardcore
       und Hass, aber noch öfter hörte man mir zu. Hab mich natürlich immer
       vorgestellt und gesagt, wofür wir stehen. Meine Partei, die SPD, hab ich
       meist erst am Ende erwähnt. Wir wollten sicher sein, dass es auf die Person
       ankommen wird.
       
       Ich glaube, es wurde sehr positiv registriert, dass ich eine
       Berufsausbildung habe und aus dem Bergbau komme, also die Lebensgefühle,
       auch die beruflichen, kenne. Mein Bonus war bestimmt, jung zu sein – ich
       bin Jahrgang 1992 – und als Rapper aus der Lausitz etwas bekannter zu sein.
       Am Ende erntete ich auch die Stimmen jener, die den Grünen und Linken
       zuneigten. Dass wir am Ende nicht nur einen Hauch vor dem AfD-Mann lagen,
       mag auch damit zu tun haben, dass ich wie einer aus der Gegend rüberkomme.
       
       Ich bin nicht vom Politikertypus, der die Leute unkonkret zuquatscht. Bei
       den Älteren hat es geholfen, dass ich ihre Lebensverhältnisse kenne, sie
       sich in mir wiedererkennen konnten. Wir haben gelernt: Man muss unbedingt
       ernst nehmen, dass die Menschen Kontakt wollen, dass sie gesehen werden
       wollen, dass zählen wird, was sie sagen. Klingt wie ein Klischee, aber:
       immer auf Augenhöhe und mit Respekt. Protokoll: Jan Feddersen
       
       9 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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