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       # taz.de -- Samische Filmkultur: Viel mehr als nur Kulissen
       
       > Das samische Kino macht auf Festivals zunehmend von sich Reden. Das
       > International Film Festival Braunschweig greift den Trend in einer
       > Sonderreihe auf.
       
   IMG Bild: Über Braunschweigs Leinwände ziehen die Rentiere: Sara Oskals Film „Eallogierdu – die Tundra in mir“ läuft im Wettbewerb
       
       Verschneite Steppenlandschaften, Rentierherden und deren Hüter*innen, die
       gegen die Kälte dick in bunte Tracht verpackt sind – das Filmfest
       Braunschweig taucht tief ein in die Tundra: Es widmet eine Reihe der
       Filmkultur des einzig anerkannten indigenen Volks Europas, das in dieser
       großen nordischen Wildnis beheimatet ist. Etwa 140.000 Sámi leben in
       Norwegen, Schweden, Finnland und Russland.
       
       Viele von ihnen pflegen immer noch die traditionelle Lebensart der
       Rentierzucht. Zu dieser Kultur gehört auch das Erzählen von Geschichten.
       Aber in der Literatur und in den visuellen Künsten wurde meist nur über sie
       erzählt. Das Kino nutzte ihre Lebenswelt gern als exotische Kulisse.
       
       Das änderte sich jedoch 1987 mit „Pathfinder – Die Rache des
       Fährtensuchers“ des samisch/norwegisch Regisseurs Nils Gaub. Der erste in
       der samischen Sprache gedrehte Spielfilm lief sehr erfolgreich in den Kinos
       und wurde für den Auslands-Oscar nominiert. Doch es dauerte noch lange, bis
       sich eine eigenständige samische Filmkultur entwickeln konnte. 2009 wurde
       in [1][Norwegen] das International Sámi Film Institute gegründet. Es
       finanziert Filme von samischen Regisseur*innen und kümmert sich um
       deren internationale Verbreitung.
       
       Eine der ersten durch diese Förderung ermöglichten Produktionen war der
       Spielfilm „Das Mädchen aus dem Norden“ von Amanda Kernell, der 2016 in
       Venedig als bester europäischer Film ausgezeichnet wurde. Seitdem sind
       Filme von samischen Filmemacher*innen, die in der samischen Sprache gedreht
       wurden, auf internationalen Filmfestivals erfolgreich und schon früh in
       diesem Jahr entschied die Auswahlkommission des internationalen
       Filmfestivals von Braunschweig den Film „The Tundra Within Me“ der
       samischen Künstlerin Sara Margrethe Oskal zum Wettbewerb für den besten
       europäischen Debüt- oder Zweitfilm einzuladen.
       
       Die Festivalleiterin Karina Gauerhof entdeckte dann, dass sich eine kleine
       Bewegung des samischen Kinos entfaltet hat, die sie als das Zeichen für ein
       „neues Selbstbewusstsein“ der samischen Künstler*innenszene ansieht.
       Und so kuratierte sie in Zusammenarbeit mit dem Sámi Film Institute für das
       Festival eine Sonderfilmreihe mit acht Lang- und fünf Kurzfilmen von
       samischen Filmemacher*innen.
       
       In „The Tundra within me“ wird anschaulich und mit grandiosen
       Landschaftsaufnahmen von der Lebenswelt samischer Rentierzüchter*innen
       erzählt. Die Filmemacherin Sara Margrethe Oskal war Besitzerin einer
       Rentierherde – genau wie ihre Protagonistin Lena, die ihre Herde verkaufte
       und nach Oslo gezogen ist, um dort als Künstlerin zu arbeiten. Für ein
       Kunstprojekt geht sie zurück in die Heimat im norwegischen Sápmi. Dort
       sehen viele sie als Verräterin an und meinen, mit ihren provokanten
       Gemälden würde sie sich über die samische Kultur lustig machen. Lena steht
       so zwischen zwei Welten. Der Konflikt verdichtet sich, als sich die
       alleinerziehende Mutter in einen Rentierzüchter verliebt.
       
       Man merkt bei diesem Film, dass die Filmmacherin aus ihren eigenen
       Lebenserfahrungen schöpft. Da wirkt jede Einstellung authentisch und die
       Handlung entfaltet sich so natürlich, dass nichts ausgedacht zu sein
       scheint. Wenn bei einer Liebesszene das Vorspiel darum so lange dauert,
       weil der Mann erst einmal aus den vielen Schichten von wärmender Kleidung
       herausgeschält werden muss, dann kann der Film auch sehr komisch sein.
       
       In anderen Filmen der Reihe wird von dem Unrecht erzählt, das die Sámi
       nicht nur in der Vergangenheit durch die sie beherrschenden
       Mehrheitsgesellschaften erlitten haben. So wurde ihre Kultur
       [2][systematisch zerstört], ihre Sprache verboten und ihre Kinder wurden in
       Erziehungsheimen zwangsassimiliert.
       
       Davon handelt „Das Mädchen im Norden“, aber auch der finnische
       Dokumentarfilm „Eatnameamet – Our Silent Struggle“ von Suvi West. Sie
       beschreibt darin den Kampf der Sámi um die Anerkennung ihrer Kultur, der
       schließlich zu der Einrichtung des „finnischen Rates für Wahrheit und
       Versöhnung“ geführt hat. Dessen Vorbild war die Wahrheits- und
       Versöhnungskommission, die vor bald 30 Jahren in Südafrika die politisch
       motivierten Verbrechen während der Apartheid untersucht hat.
       
       Die ästhetische Vielfalt des Sámi-Kinos lässt sich wohl am besten am
       Sonntag erleben. Das Spektrum der fünf Beiträge, die im Kurzfilmprogramm
       „Sámi-Shorts“ präsentiert werden, reicht vom Tanzfilm über die politische
       Reportage bis zum experimentellen Dokumentarfilm „Bihttoš – Rebel“, der das
       kollektive, generationenübergreifende Trauma inhaltlich und stilistisch
       originell behandelt: Filmemacherin Elle Máijá Tailfeathers ist Tochter
       eines Sámi und einer [3][Blackfoot aus Kanada]. In einer Mischung aus
       Animation und Archivmaterial erzählt sie von der Liebe ihrer Eltern, die
       sich beim Kampf für die Rechte ihrer Völker begegnet sind.
       
       Als sie die Vergangenheit ihres Vaters erforscht, findet sie heraus, dass
       dieser als Kind aus seiner Familie gerissen wurde: Die 139 bis 1996 vom
       Staat Kanada betriebenen Umerziehungsschulen hatten zur Aufgabe, das
       indigene Erbe auszumerzen. Tailfeathers erkennt in dieser Erfahrung die
       Ursache für Depressionen und Verzweiflung, an denen ihr Vater sein Leben
       lang litt, und die auch ihr eigenes Lebensgefühl verdunkeln. In nur 14
       Minuten gelingt es der Filmemacherin, einen großen Bogen zu schlagen: von
       ihrer Familiengeschichte zum Unrecht, das den Sami angetan wurde. Und das
       macht „Bihttoš – Rebel“ zu einem großen kleinen Film.
       
       11 Nov 2024
       
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