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       # taz.de -- kritisch gesehen: tanzstück „matriarchs“ im pavillon in hannover: Was weibliche Macht vermag
       
       Lange Zeit sind sie gesichtslos, sind Körper und Haare; Haare, die ihre
       Gesichter verhüllen, die sich wie Algen um ihre Gliedmaßen schlängeln, wie
       fließende Vorhänge, stolze Mähnen, schützendes Fell. Mehrere irritierende
       Minuten vergehen in Liliana Barros’„Matriarchs“, bis die drei Tänzerinnen
       ihre Blicke durch ihre rote, blonde oder schwarze Langhaarperücke ins
       Publikum richten, sich als menschliche Wesen zeigen. 
       
       Langsam haben sich Clémentine Herveux, Keren Leiman und Anastasia Senikova
       zuvor herausgeschält aus kegelförmigen Kleidern, die sie wie Hüllen, wie
       nutzlose Spielfiguren am hinteren Bühnenrand zurücklassen. Nur langsam
       scheinen sie ihre Körper zu entdecken, streifen und streichen über den
       roten Tanzboden, verdrehen ihre Beine und Hände, zucken und rutschen und
       kommen sich und einander in die Quere. Hintereinander sitzend wirken die
       Tänzerinnen kurzzeitig wie ein einziger Körper mit Beinen dort, wo
       anatomisch Arme verortet sind. Dann sind sie ein Haar-Wesen, dessen
       Gliedmaßen ungelenk und elegant zugleich in alle Richtungen ragen.
       
       Unwissend scheinen die Tänzerinnen in diese Welt gerutscht, die sie sich
       nach und nach erobern. Tastend und suchend lösen sie sich zunehmend vom
       Boden. Richten sich auf und probieren Geste und Posen. Aus einem zunächst
       zaghaften Headbanging wird ein wütendes Schleudern der Haarmähnen, und aus
       liebevoll geflochtenen Haarsträhnen werden Hundeleinen, an denen eine der
       Tänzerinnen die anderen beiden über die Bühne führt. Ein Bild, das von
       Macht und Unterwerfung erzählt.
       
       „Matriarchs“ betitelt die portugiesische Choreografin Liliana Barros ihr
       jüngstes Werk, das im Kulturzentrum Pavillon Hannover Premiere hatte. Es
       ist ein assoziativer Abend zu Weiblichkeit und Macht: Mal verhüllen darin
       die Tänzerinnen, die in hautfarbenen Bodys stecken, mit ihren Haarbüscheln
       gegenseitig Scham und Brust, mal gleiten sie anmutig in eine Pietà, mal
       formen sie aus ihren Perücken ein schützendes Nest. Ein anderes mal
       verrichten sie ritualisierte Alltagsdinge oder schreiten in stolzer
       Herrscherpose über die Bühne.
       
       Mit beunruhigenden elektronischen Sounds voller knisternder Unwägbarkeiten
       und treibender Loops unterlegt Martin Mitterstieler die Choreografie.
       Manchmal scheinen sich menschliche Seufzer in seine flackernden
       Kompositionen zu mischen, später Marschrhythmen. Längst haben sich die
       Performerinnen dann schwarze Militärstiefel übergezogen.
       
       Mit höchst professionellen Tänzerinnen, die die Bandbreite zwischen Ballett
       und Modern Dance mit großer Exaktheit ausschöpfen und mit symbolhaften
       Szenen schafft Barros einen eindringlichen, lange nachhallenden Abend, der
       von Mythen, Legenden und Ermächtigung erzählt, aber auch von Macht,
       Ohnmacht und Kontrollverlust. Und der wie nebenbei die beunruhigende Frage
       aufwirft, was (weibliche) Macht vermag.Katrin Ullmann
       
       Liliana Barros: „Matriarchs“: weitere Aufführungen in Planung,
       lilianabarros.com
       
       12 Nov 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Ullmann
       
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