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       # taz.de -- Lesbische Bars in den USA: Der letzte Safe Space in Nashville
       
       > Lesbenbars sind in den USA vom Aussterben bedroht. Doch zur Lipstick
       > Lounge in Nashville strömen Massen. Was ist da los? Ein Besuch.
       
   IMG Bild: Der Abend ist noch jung: Freitagabend in der Lipstick Lounge
       
       Nashville taz | Auf dem Broadway, der Partymeile Nashvilles, stapfen nachts
       Tausende Tourist:innen aus allen US-Staaten in [1][Cowboystiefeln] durch
       die Pfützen im Asphalt: feuerrot, glitzernd, ockerfarben. Drinnen pocht in
       der schimmernden Dunkelheit der Honkytonk-Spelunken der Live-Bass von
       „Sweet Caroline“. Hier wird gegrölt, gesoffen, geflirtet. Einheimische
       verziehen das Gesicht, wenn von „NashVegas“ die Rede ist, sie meiden den
       Broadway.
       
       Wer in der Stadt zu Hause ist, sitzt wenige Kilometer entfernt in der
       Lipstick Lounge im Osten Nashvilles.
       
       Zur Heimat wird eine Stadt erst, wenn sie einen geliebten Ort birgt. Da, wo
       man sich trifft und wiedertrifft, wo man redet, um zu reden, und die
       Kellnerinnen beim Vornamen nennt. So [2][ein Ort] ist für viele Menschen
       die „Lipstick Lounge“, die sich „A Bar for Humans“ nennt.
       
       Jede Woche besuchen sie etwa zweitausend Menschen. Dieses Jahr kürte die
       Tageszeitung USA Today die Lipstick Lounge zu einer der besten Bars im
       ganzen Land. Sie ist eine der letzten 31 Lesbenbars in den USA.
       
       Freitagabend, 22 Uhr. Der Raum ist prall gefüllt [3][mit Lesben], Heteros
       und trans Personen, Tourist:innen und Einheimischen, Schwarzen und
       Weißen, dünn und dick, jung und älter. Die Kellnerin trägt ein Käppi mit
       „Nipples make me simple“. Alles glitzert, flimmert und knistert wie bei
       einer Musicalshow: die Discokugeln, der knallrote Plastik-Kussmund an der
       Wand, das transparente schwarze Paillettenkostüm der Dragqueen auf der
       Bühne, die gerade Queen Lucinda ankündigt.
       
       „Gebt der Kellnerin ein gutes Trinkgeld! Je mehr ihr gebt, desto
       betrunkener werdet ihr, und je betrunkener ihr seid, desto versauter werde
       ich, und das ist ein Win-win für alle!“ Lauter Applaus.
       
       Maschas Date verspätet sich. Eigentlich sollte sie längst da sein, die
       schöne Dunkelhaarige von letzter Nacht. „Meinst du, sie kommt noch?“,
       flüstert Heather der Freundin zu. Die beiden sitzen draußen auf der
       Barterrasse, essen Fritten und trinken Bier. Dann steht Mascha auf und
       verschwindet, Zigaretten holen. Heather bleibt sitzen und schiebt einer
       Bekannten mit den Worten „das ist für die Queens“ einen Dollarschein zu.
       
       ## Erst einsam, dann geborgen
       
       Heather Hayden und Mascha Titova, beide Anfang dreißig, kennen sich aus der
       Lipstick Lounge. Heather wuchs als frommes Mädchen in einer evangelikalen
       Gemeinde in einem Vorort von Nashville auf, hörte Countrymusik und ging
       reiten. Mit Mitte zwanzig folgte der Ausbruch aus dem engen Korsett der
       Kirche. Heute managt Heather einen Vintage-Shop und benutzt
       „they“-Pronomen, sieht mit feuerroten Struppelhaaren „rather faggy“ aus.
       
       Mascha lächelt immerzu ironisch, ihre Lippen zucken vielsagend. Sie spricht
       direkt und verzichtet auf amerikanische Füllwörter wie „awesome“ und
       „amazing“. Sie kommt aus Russland, hier macht sie ihren Post-Doc in
       Wirtschaftswissenschaften. Als Lesbe und queere Aktivistin kann sie nicht
       mehr in ihre Heimat zurück. Anfangs fühlte sie sich einsam in Nashville,
       dann lernte sie Heather und ihre Clique kennen.
       
       Mascha sagt: „Heather ist so links und so gebildet, weiß alles über alles.
       Wenn wir abhängen, vergesse ich manchmal, dass es noch Heteros auf der Welt
       gibt.“ Heather sagt: „Mascha liebt Amerika und den Kapitalismus hier auf
       eine Weise, die ich faszinierend finde. Nach den Repressionen in Russland
       hat sie hier ihre Freiheit gefunden.“
       
       Nashville, Hauptstadt von Tennessee, gilt als christliche Hauptstadt und
       hat mehr als 700 Kirchen. Aber sie ist stolz auf ihren Ruf als politisch
       liberale Oase in einem tiefroten Bundesstaat mitten im [4][Bible Belt].
       
       Auch wenn sich die Schlinge hier schleichend enger zieht. Kein anderer
       Staat in den USA versuchte im vergangenen Jahr, so viele LGTBQI-feindliche
       Gesetze zu verabschieden wie Tennessee. Dragshows vor Kindern wurden
       verboten, diesen Sommer wurde der regenbogenfarbene Zebrastreifen vor der
       Lipstick Lounge mit einer zähflüssigen schwarzen Masse übergossen.
       
       Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in US-Metropolen noch viele, überwiegend
       weiße, Lesbenbars, die oft als inoffizielle Underground-Orte operierten und
       nur eine kurze Lebensdauer hatten. Schwarze queere Frauen schufen ihr
       eigenes Nachtleben, organisierten Hauspartys und Veranstaltungen.
       
       Die Zahl der Lesbenbars in den USA geht in den vergangenen drei Jahrzehnten
       beständig zurück. In den 80er Jahren gab es schätzungsweise 200, im Jahr
       2020, berichtete NBC News, nur noch weniger als 20.
       
       Während der Coronapandemie rief Christa Suppan, Besitzerin der Lipstick
       Lounge, ihre Businesspartnerin jeden Tag an, schildert sie im Video-Call
       mit der taz. Zusammen weinten sie in den Hörer. Seit die beiden die Bar
       2002 eröffnet hatten, kamen sie kaum über die Runden. Für ihren eigenen
       Lohn mussten sie selbst immer hinter dem Tresen stehen.
       
       Jetzt befürchteten sie, endgültig schließen zu müssen. „Aber Lipstick ist
       eingefleischt in unser Herz, ein Teil unseres Lebens, unserer Identität.
       Wir konnten das nicht einfach so aufgeben.“ Auch ihre Frau hatte Suppan vor
       vielen Jahren hier kennengelernt.
       
       Sechs Monate lang blieb die Bar zu, dann nahmen sie einen Kredit auf. Es
       kam alles anders als erwartet. „Ich dachte nie, dass ich das einmal sagen
       werde, aber die Pandemie hat alles verändert. Als ob ein Knoten geplatzt
       wäre und die Menschen begriffen: sie brauchen uns und die Gemeinschaft hier
       genauso sehr wie wir sie.“
       
       ## Angst vor einem Angriff
       
       Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich die Zahl der Besucher:innen
       heute fast verfünffacht. Lesbenbars stünden vor der Herausforderung, dass
       lesbische Frauen oft schnell in Beziehungen rutschen, sich zu Hause ihr
       Nest bauen und nicht mehr weggehen würden. Aber die Lipstick Lounge ist
       eben nicht nur für Lesben ein Ort, an dem sie Spaß haben, sondern für alle.
       Das bringt einen finanziellen Vorteil mit sich. Gerade vergrößern sie ihre
       Fläche und eröffnen das „Chapstick“: eine Sportbar, in der Frauensport
       ausgestrahlt werden soll.
       
       Jahrzehntelang sah es aus, als ob Lesbenbars aussterben würden. Seit 2020
       gibt es eine Renaissance: in den USA haben ein Dutzend neue Bars eröffnet,
       deren Besitzerinnen queere Frauen sind. Zum Trend dieser Bars als Safe
       Spaces haben auch die New Yorker Filmemacherinnen Erica Rose und Elina
       Street beigetragen.
       
       Als sie feststellten, dass es in den USA nur noch wenige lesbische Bars
       gibt, riefen sie „[5][The Lesbian Bar Project“] ins Leben, unterstützt vom
       Kräuterschnaps Jägermeister. Die Dokureihe, die bestehende Bars – auch die
       Lipstick Lounge – vorstellt, wurde mit einem Emmy ausgezeichnet.
       
       Mit der Lipstick Lounge eine Heimat für alle Menschen zu schaffen, ist für
       Suppan auch ein religiöser Imperativ. Sowohl sie als auch ihre
       Businesspartnerin wuchsen in einer strengen evangelikalen Gemeinde auf.
       Heute geht Suppan nicht mehr in die Kirche, aber sie bezeichnet sich als
       gläubige Christin.
       
       Die Freude über das Aufblühen der Lipstick Lounge wird überschattet von der
       Ungewissheit und Sorge über die Präsidentschaftswahl – die inzwischen
       stattgefunden hat. Der Osten Nashvilles ist für queere Menschen der
       vielleicht sicherste Teil der Stadt. Als vor einigen Monaten Mitglieder der
       Neonazigruppe „Goyim Defense League“ auf der Partymeile Broadway im Zentrum
       auftauchten, bekam Suppan sofort einen Anruf.
       
       Sie fürchtete einen Angriff auf die Bar: in Nashville ist die Lipstick
       Lounge eine kleine Berühmtheit, was sie auch verletzlich macht. Die
       Nachbarschaft schickte sofort eine Patrouille zum Schutz von Lipstick.
       
       „Ich wünsche mir, dass dieses Land geheilt wird, sonst sind alle Verlierer.
       Ich habe Angst um Amerika“, sagt Suppan ein paar Tage vor der Wahl. Sie
       wird Harris wählen. Sie fürchtet die Konsequenzen, falls Trump verlieren
       sollte. Heather Hayden wird für Jill Stein, die grüne Kandidatin, stimmen,
       nicht für die Demokraten: zu weit sind sie in ihrer Rhetorik nach rechts
       gerückt.
       
       Mascha darf nicht wählen, sie ist keine Staatsbürgerin. Mittlerweile sitzt
       ihr Date auf ihrem Schoß, sie hat den Arm um ihre Taille geschlungen. Die
       beiden knutschen so innig, als ob es keine Präsidentenwahl gäbe.
       
       11 Nov 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Marina Klimchuk
       
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