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       # taz.de -- 48. Filmwoche Duisburg: Fragen von hinter der Kamera
       
       > Die 48. Duisburger Filmwoche würdigte die Kraft des beobachtenden
       > Dokumentarfilms und der Neugier auf die Welt.
       
   IMG Bild: „Durchgangsland“ von Daniel Fill erhielt den Arte-Dokumentarfilmpreis
       
       Etwas unschlüssig lächelt der Präsidentschaftsbewerber der Demokratischen
       Partei hinter einer kulissenhaft aufgetürmten Fotoausrüstung hervor. Der
       Fotograf hantiert flink an den Apparaturen, und irgendwann fragt John F.
       Kennedy: „Es ist noch nicht Zeit, um zu lächeln?“ Im Frühjahr 1960 laufen
       die Vorwahlen der Demokraten für die Präsidentschaftswahl im Herbst. Für
       ihren Dokumentarfilm „Primary“ filmten Robert Drew, Richard Leacock, Albert
       Maysles, Terence Macartney-Filgate und D. A. Pennebaker den Vorwahlkampf
       zwischen John F. Kennedy und Hubert Humphrey in Wisconsin in ungewohnter
       Nähe. Die Filmemacher drehten Kennedy beim Fotografen und beim Einzug in
       eine Saalveranstaltung und seinen Widersacher beim Werben um Wählerstimmen
       in der Innenstadt.
       
       „Primary“ ist einer der Gründungsfilme des Direct Cinema. In einem
       Interview von 2012 beschreibt Albert Maysles, einer der Kameramänner, den
       Ansatz: „Wir haben völlig verstanden, dass das etwas Neues war im
       Dokumentarfilm – kein Moderator, kein Erzähler, keine Interviews – all das
       zeigte direkter, näher, was passierte.“
       
       Letzten Dienstag eröffnete der Film festivalintern die kleine Reihe mit
       filmhistorischen Referenzen, die die Kraft des beobachtenden
       [1][Dokumentarfilms] beschwor – einer Art Dokumentarfilm, der primär auf
       die Beobachtung des Geschehens setzt und nicht etwa auf performative
       Interpretationen oder assoziative Kommentare. Die Sehnsucht nach dieser Art
       Dokumentarfilm zog sich durch das Festival. Obwohl es im Programm nicht an
       Beispielen für diese Art Film mangelte, wovon auch die diesjährigen
       Preisträgerfilme zeugen.
       
       Die Schweizer Regisseure Felix Hergert und Dominik Zietlow dokumentieren in
       „Brunaupark“ das erzwungene Ende einer Gemeinschaft. Um die Siedlung
       umgestalten zu können, kündigt die Besitzerin, die Pensionskasse der Credit
       Suisse, den alten Mieter_innen. Die Gebäude sollen abgerissen werden.
       „Brunaupark“ dokumentiert Abschied und Widerstand einiger verbleibender
       Mieter_innen. Der Film gewann den Nachwuchspreis des Landes NRW.
       
       ## Das Klein-Klein der Migrationsrouten
       
       Nicole Vögele, ebenfalls Schweizer Dokumentarfilmerin, machte in
       „Landschaft und Wahn“ an der Grenze zwischen Kroatien und
       [2][Bosnien-Herzegowina] das Klein-Klein der Migrationsrouten nach Europa
       sichtbar. Vögele zeigt einen Alltag, in dem die Geflüchtete von der Polizei
       beraubt und misshandelt werden, und Dörfer, in denen sich um sie eine
       Miniinfrastruktur gebildet hat, und sei es nur ein leerer Raum, in dem die
       Menschen einige Nächte rasten können, bevor sie weiterziehen. „Landschaft
       und Wahn“ zeigt die Härte der Migration, aber auch Lichtblicke, wie ein
       aufblasbares Planschbecken, das einer der Dorfbewohner den Kindern von
       Geflüchteten schenkt.
       
       Der österreichische Dokumentarfilmer Daniel Fill porträtiert in
       „Durchgangsland“ einen Ort, durch den die meisten nur durchfahren. Von
       Deutschland aus liegt Fortezza/Franzensfeste eine Bahnstation hinter dem
       Brenner. Fills Film kombiniert beobachtende Passagen mit solchen, in denen
       der Filmemacher von hinter der Kamera Fragen stellt. Dank dieser
       Kombination entsteht auf gerade einmal eineinviertel Stunden Länge ein
       komplexes Bild der kleinen Stadt. Nur wenige, die in dem Ort geboren
       wurden, werden dort alt. Dafür zieht die Baustelle des Brenner-Basistunnels
       Menschen ebenso dorthin wie das ruhige Leben an einem eher unscheinbaren
       Ort. „Durchgangsland“ wurde auf dem Festival mit dem
       Arte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet, einem der beiden Hauptpreise des
       Festivals.
       
       Wer die Filme des Festivals sah, bekam nicht den Eindruck, dass das
       Gegenstück zum beobachtenden Dokumentarfilm, die „Instagramisierung des
       Kinos“ oder die „Zersplitterung von Widersprüchen in verdauliche Häppchen“
       (Programmtext) ist. Vielmehr entsteht ein Gegenbild eher durch Filme, die
       sich in inszenatorischen Mitteln verrannten und denen jede Neugier auf die
       Welt abhandengekommen war.
       
       ## Inszenierte Bilder ohne Leben
       
       So zwang die französische Künstlerin Clémentine Roy in „Arancia bruciata“
       eine süditalienische Landschaft und eine Gruppe von Lebenskünstler_innen in
       ein erkenntnisfreies Korsett, dessen Rippen aus inszenierten Szenen
       bestanden, denen die Regisseurin jedes Leben ausgetrieben hatte. Elsa
       Kremser und Levin Peter (bekannt durch den Film „Space Dogs“) begleiteten
       in ihrem neuen Film „Dreaming Dogs“ eine Gruppe von Menschen und Hunden
       ohne Obdach in Russland und erfreuen sich dabei vor allem an den
       wohlgeplanten Kamerabewegungen.
       
       Das [3][Direct Cinema], das „Primary“ begründete, wurde oft auf die
       Formulierung gebracht, es nehme die Perspektive eines unbeteiligten
       Beobachters ein, die einer Fliege an der Wand. Albert Maysles widerspricht
       dem vehement: „Direct cinema ist alles andere als eine Fliege auf der Wand.
       Du musst dich ins Getümmel stürzen, um zu verstehen, was wirklich passiert.
       Vor allem muss die Kameraperson das Selbstbewusstsein haben, dass ihre
       Präsenz das, was passiert, nicht stört.“ In ihren besten Filmen war diese
       Duisburger Filmwoche ein Plädoyer für eine neugierige Begegnung mit der
       Welt.
       
       11 Nov 2024
       
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