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       # taz.de -- Krieg in Gaza: „Der Tod ist die Regel, nicht die Ausnahme“
       
       > Israels Militär belagert den Nord-Gazastreifen, die humanitäre Situation
       > ist fatal. Am Telefon berichten Menschen, die dort ausharren, von ihrem
       > Alltag im Krieg.
       
   IMG Bild: Ein seltener Anblick in Nordgaza: Ein Lastwagen mit humanitärer Hilfe für den Gazastreifen an einem Grenzübergang zu Südgaza
       
       Kairo taz | Es mangelt nicht an Worten, um die derzeitige Situation im
       nördlichen Gazastreifen zu beschreiben: Als „apokalyptisch“ bezeichnete
       eine Gruppe von UN-Organisationen, darunter das Welternährungsprogramm, sie
       jüngst. „Die gesamte palästinensische Bevölkerung im Norden Gazas ist von
       Tod, Krankheit, Hunger und Gewalt bedroht“, heißt es in einer gemeinsamen
       Erklärung. Seit fünf Wochen wird der Nordteil des Küstenstreifens von
       israelischen Truppen belagert, ihre Panzer rollen durch die Orte Beit
       Lahiya, Beit Hanoun und das seit 1948 bestehende und zu einer Stadt
       herangewachsene Flüchtlingscamp Jabaliya.
       
       Internationalen Journalisten verwehrt Israel den Zugang zum Gazastreifen.
       Die wohl beste Option, um sich selbst ein Bild zu machen, ist derzeit, mit
       Menschen vor Ort zu telefonieren.
       
       Majda Al-Adham lebt mit ihren acht Kindern im Alter zwischen 5 und 17
       Jahren in ihrer Wohnung im Jabaliya-Flüchtlingslager – trotz des
       israelischen Aufrufs, das Camp zu verlassen. Im Laufe des letzten Jahres
       hatte sie ihr Zuhause bereits viermal verlassen und sei am Ende immer
       wieder zurückgekehrt, erzählt sie. „Kein Ort war sicher.“
       
       Warum flieht sie nun nicht erneut? „Es ist zu gefährlich. Wenn ich nur die
       Haustür öffne, fliegen draußen israelische Quadrocopter und schießen auf
       alles. In der Straße hinter uns sind die israelischen Panzer“, antwortet
       sie. Ihr Haus wackele jedes Mal, wenn die Panzer vorbeirollen. Doch auch im
       Haus herrscht die Angst. „Wenn ich von einem Zimmer zum nächsten gehe,
       kommen alle Kinder mit. Entweder überleben wir gemeinsam oder wir sterben
       alle zusammen.“
       
       ## Teil des „Plans der Generäle“?
       
       Jüngst schätzte das UN-Büro für Humanitäre Angelegenheiten (OCHA), dass
       nach etwa einem Monat Belagerung etwa 100.000 Menschen aus dem nördlichen
       Gazastreifen Richtung Süden vertrieben wurden. Bis zu 95.000 Palästinenser
       sollen sich aber weiterhin im nördlichen Teil aufhalten. Seit Beginn der
       Belagerung wurden dort nach palästinensischen Angaben mindestens 1.300
       Menschen getötet.
       
       Die israelische Regierung hält die Belagerung für notwendig, um zu
       verhindern, dass sich in Nordgaza erneut Hamas-Kämpfer gruppieren. Aber
       Menschenrechtsgruppen fürchten, [1][dass die Belagerung Teil des
       sogenannten „Plans der Generäle“ ist] – und zum Ziel hat, die Menschen aus
       dem Norden des Gazastreifens permanent zu vertreiben und das Gebiet im
       Anschluss zu einer geschlossenen Militärzone zu erklären.
       
       Jedes Mal, wenn sie von Verhandlungen höre, steigt bei Al-Adham die
       Hoffnung, erzählt sie. „[2][Wir brauchen einen Waffenstillstand], und wenn
       es nur für einen Tag wäre. Nur um wenigstens einmal kurz durchzuatmen“,
       betont sie. Doch ihre Hoffnung wird sich so schnell wohl nicht erfüllen.
       [3][Am vergangenen Samstag verkündete das Golfemirat Katar], dass es sich
       aus allen Vermittlungsbemühungen zwischen der Hamas und Israel
       zurückgezogen habe, „bis die beiden Parteien ihren Willen und ihre
       Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen, dass sie an einem Ende des Krieges
       interessiert sind“.
       
       „Ihr könnt euch die Zerstörung, die wir von unserem Haus aus sehen, nicht
       vorstellen, das hat etwas Surreales“, sagt Al-Adham am Telefon. „Die
       getötet wurden, hatten Glück, für sie ist es vorbei“, erklärt sie.
       
       ## Muhammads Haus in Jabaliya wurde gesprengt
       
       Al-Adham ist mit ihren Gefühlen nicht alleine. Es klingelt eine Weile, bis
       Muhammad dann doch ans Telefon geht. Früher lehrte an einer der
       Universitäten in Gaza, seinen vollen Namen will er nicht veröffentlicht
       sehen. Er habe Angst. Sein Haus in Jabaliya sei, wie viele Häuser in seiner
       Nachbarschaft, von der israelischen Armee vermint und gesprengt worden,
       erzählt er. Er habe dann mit seiner Familie im Kamal-Adwan-Krankenhaus in
       der nördlichen Stadt Beit Lahiya einen vermeintlich sicheren Unterschlupf
       gefunden.
       
       In der Nacht auf den 25. Oktober beginnt die [4][Offensive des israelischen
       Militärs auf das Spital]. Er sei mit Gruppen anderer Männer, darunter auch
       medizinisches Personal, nach draußen gebracht worden, erzählt er. Sie
       hätten sich in eine Sandkuhle setzen müssen. „Die war von israelischen
       Panzern umstellt. Sie haben einen nach dem anderen verhört“, berichtet er.
       
       Am Ende wurden die Männer entweder mitgenommen oder freigelassen.
       Diejenigen, die wegen des Verdachts, mit der Hamas zu kooperieren,
       festgenommen wurden, hätten Soldaten hinter eine Häuserecke gebracht,
       erzählt er. Von dort hätten sie dann Schüsse gehört. Andere seien auf Lkws
       aufgeladen worden. Was genau mit denen passierte, die weggebracht wurden,
       lässt sich nicht überprüfen. Aber die Fotos von den Männern, die nur mit
       ihrer Unterhose bekleidet im Sand saßen, gingen um die Welt.
       
       Zwölf Stunden, erzählt Muhammad, habe er dort verbracht. Am Ende durfte er
       gehen. „Wir sind sieben Kilometer zu Fuß gelaufen, immer wieder zwischen
       israelischen Panzern am Straßenrand. Die meisten von uns waren barfuß“,
       erinnert er sich. Mit dabei war auch Muhammads zehnjähriger Sohn. „Es ist
       seitdem schwer, ihn zu überzeugen, dass er in Sicherheit ist, selbst wenn
       ich ihn im Arm halte“, sagt er. Die Kinder hätten Albträume und
       Panikattacken, machten wieder ins Bett. Manche seien aggressiv, anderen
       dächten in ihrem jungen Alter schon an Rache.
       
       ## „Wir überlassen den Israelis unser Land. Genug ist genug.“
       
       Mit seiner Familie hat Muhammad Nordgaza schließlich verlassen, sie leben
       nun in Gaza-Stadt. In einem Gebäude mit 125 anderen Menschen – aber
       immerhin: Er und seine Familie haben überlebt. „Der Tod ist die Regel,
       nicht die Ausnahme. Wenn du lebend da rauskommst – das ist die Ausnahme“,
       fasst er die letzten Wochen zusammen.
       
       Al-Adham hat in ihrer Wohnung im Camp Jabaliya jegliche Hoffnung verloren.
       „Was die Zukunft bringt? Wir warten hier auf den Tod. Falls sie irgendwann
       die Grenzen öffnen, gehen wir hier weg. Wir überlassen den Israelis einfach
       unser Land. Genug ist genug.“ Al-Adham hat kapituliert, will nur noch
       überleben. Sie habe drei ihrer Brüder verloren, deren fünf Kinder und ihre
       Schwester, sagt sie. Das sei mehr, als ein Mensch aushalten könne.
       
       11 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
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