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       # taz.de -- Regisseur des Thriller „Motel Destino“: „Wo wäre das Kino ohne den Sex und die Liebe?“
       
       > Für Regisseur Karim Aïnouz war sein Spielfilm „Motel Destino“ nach der
       > Bolsonaro-Regierung wie ein Neuanfang. Sex nutzt er als erzählerisches
       > Mittel.
       
   IMG Bild: Auf der Flucht in die Absteige: Heraldo (Fábio Assunção) und eine Sexarbeiterin in „Motel Destino“
       
       Selbst von seiner Wahlheimat Berlin aus gehört Karim Aïnouz zu den
       wichtigsten Stimmen des modernen brasilianischen Kinos. Nachdem der
       Regisseur, der 1966 als Sohn einer Brasilianerin und eines Algeriers
       geboren wurde, zuletzt 2023 das britische Historiendrama „Firebrand“ mit
       Jude Law und Alicia Vikander inszenierte (als VoD verfügbar), kehrt er mit
       seinem neuen Film nach Hause zurück. 
       
       taz: Herr Aïnouz, [1][„Motel Destino“], die Geschichte eines jungen Mannes,
       der in einem abgelegenen Stundenhotel an der nördlichen Küste Brasiliens
       bei dessen Betreiber und seiner Frau unterkommt, ist nach „Mariner of the
       Mountains“ und „Firebrand“ Ihr dritter Film in vier Jahren. Im vergangenen
       Frühjahr zeigten Sie obendrein in der Ausstellung „Blast!“ künstlerische
       Arbeiten in der DAAD-Galerie in Berlin-Kreuzberg. Gibt es einen Grund
       dafür, dass Sie dieser Tage so produktiv sind wie lange nicht? 
       
       Karim Aïnouz: Letztlich ist Filmemachen immer eine Frage der richtigen Zeit
       und des richtigen Ortes. Eigentlich wollte ich „Motel Destino“ schon viel
       früher drehen. Das Drehbuch schrieb ich 2016, und ein Jahr später stand
       auch bereits ein Großteil der Finanzierung. Mein Plan war damals, die
       Region, in der ich aufgewachsen bin, auf die Leinwand zu holen, den
       Nordosten Brasiliens. Und ich wollte einen Film drehen, der im Sonnenschein
       und in der Hitze spielt, voller Sex und Jugend, der etwas über
       Grenzüberschreitungen erzählt. Doch dann kam in Brasilien bekanntermaßen
       ein Faschist an die Macht.
       
       taz: Sie meinen Jair Bolsonaro, der 2018 zum Präsidenten gewählt wurde. 
       
       Aïnouz: Ganz genau. Mit ihm änderte sich die gesamte Kulturlandschaft in
       Brasilien, die Filmförderung wurde gestoppt, längst geschlossene Verträge
       wurden aufgelöst. Damit war auch mein Film erst einmal gestorben. Ich
       wollte mit dieser Regierung nicht das Geringste zu tun haben, deswegen
       schien es mit undenkbar, weiterhin in Brasilien zu drehen. Also
       konzentrierte ich mich auf „Firebrand“ und andere internationale Projekte.
       Doch als ich den Film schließlich 2023 in Cannes vorstellte, war die
       Situation zu Hause plötzlich eine andere.
       
       taz: Dass Bolsonaro 2022 die Wahl verlor und der linksorientierte Lula da
       Silva zurück an die Macht kam, änderte sofort auch die Situation in der
       Kunst? 
       
       Aïnouz: Es flossen tatsächlich sehr schnell wieder Gelder für Filme und
       andere Kulturprojekte. Mit einem Mal schien „Motel Destino“ wieder
       umsetzbar zu sein. Und ich spürte nach all den politisch dunklen Jahren
       eine enorme Sehnsucht, wieder mal in meiner Heimat zu arbeiten. Also flog
       ich direkt von Cannes nach Brasilien und begann damit, in Windeseile den
       Film auf die Beine zu stellen. Ich war lange nicht so aufgeregt bei der
       Arbeit wie bei „Motel Destino“.
       
       taz: Warum das? 
       
       Aïnouz: Irgendwie fühlte sich das plötzlich wieder an, als würde ich zum
       ersten Mal einen Film drehen. Das war wie ein Neuanfang, für Brasilien und
       für mich. Außerdem gab mir „Motel Destino“ die Chance, mich mit Dingen zu
       beschäftigen, die mich schon länger reizten. Ich wollte mich von der
       Realität lösen und mit Fantasy-Elementen, Träumen und dem Unwirklichen
       spielen. Schon in meinem Dokumentarfilm „Mariners of the Mountain“ ging es
       um Träume und Erinnerungen, und ich versuchte, dafür Bilder zu finden.
       Damit wollte ich unbedingt weiter experimentieren.
       
       taz: Ein wichtiger Bestandteil der Geschichte von „Motel Destino“ ist Sex.
       Das ist dieser Tage fast eine Seltenheit, wo sich Erotik und Lust immer
       mehr aus dem Kino zu verabschieden scheinen und etwa in Hollywood 40
       Prozent weniger Sexszenen gedreht werden als noch vor 20 Jahren. Aber
       vermutlich ging es Ihnen nicht darum, diesbezüglich bewusst ein Statement
       zu setzen, oder? 
       
       Aïnouz: Doch, bis zu einem gewissen Grad war das durchaus meine Absicht.
       Natürlich war mein Wunsch, einen sinnlichen und erotischen Film zu drehen,
       in erster Linie eine Reaktion auf das Ende dieses autoritären Regimes in
       Brasilien. Aber ich bin auch wirklich frappiert, wie viele Berührungsängste
       es heutzutage in Sachen Sexszenen gibt, und zwar sowohl bei meinen
       Kolleginnen und Kollegen als auch beim Publikum. Wann hat diese Entwicklung
       begonnen? Und warum? Denn das Begehren ist doch eigentlich die Grundlage
       des Filmemachens. Wo wäre das Kino ohne den Sex und die Liebe? Außerdem ist
       Sex doch etwas ganz Alltägliches. Er gehört zum Leben dazu, wie die Dusche
       am Morgen.
       
       taz: Na ja, vermutlich hat nicht jeder Mensch derart regelmäßig Sex … 
       
       Aïnouz: Stimmt. Aber auch nicht jeder Mensch isst morgens vor der Arbeit
       Frühstück – und trotzdem sehen wir das gefühlt in jedem Film. Was ich nur
       sagen will: Für mich ist Sex eine Selbstverständlichkeit und hat nichts mit
       Schuld oder Scham zu tun, sondern mit Spaß. Ich bin ein sehr sexpositiver
       Mensch.
       
       taz: Ist es für Sie bei einem solchen Dreh denn inzwischen auch
       selbstverständlich, mit eine*r [2][Intimitätskoordinator*in]
       zusammenzuarbeiten? 
       
       Aïnouz: Anfangs war ich diesbezüglich skeptisch, weil mir der Gedanke nicht
       behagte, dass es zwischen meinen Schauspieler*innen und mir als
       Regisseur noch eine Instanz gibt. Doch dann habe ich bei „Firebrand“ in
       dieser Hinsicht gute Erfahrungen gemacht. Bei „Motel Destino“ war die
       Zusammenarbeit mit meiner Intimitätskoordinatorin Roberta Serrado nun sogar
       richtig bereichernd. Sie sorgte nicht nur dafür, dass meine
       Schauspieler*innen sich wohl und sicher fühlen, sondern wurde mir eine
       echte Partnerin, wenn es darum ging, die Sexszenen zu choreografieren und
       erzählerisch das meiste aus ihnen herauszuholen.
       
       taz: Sind Sexszenen schwieriger zu drehen als andere? 
       
       Aïnouz: Das nicht. Eigentlich mache ich da gar keinen Unterschied. Eine
       Sexszene ist für mich eine Szene wie jede andere. Denn sie erfüllt in
       meinen Filmen auch den gleichen Zweck wie jede andere Szene: Sie erzählt
       uns etwas über die Figuren und ihr Verhältnis zueinander. Es geht ja nicht
       bloß um den Sex. Wenn ich Menschen beim Vögeln zugucken will, kann ich ins
       Internet gehen und irgendeinen Porno anklicken. In einem Spielfilm ist Sex
       ein narratives Werkzeug. Und zwar ein ausgesprochen wirkungsvolles. Denn
       wie könnte ich effektiver etwas über die Zu- oder auch Abneigung zweier
       Personen zueinander erzählen als über das intime Miteinander ihrer Körper?
       
       taz: Obwohl Sie nach wie vor Brasilien als Ihr Zuhause bezeichnen, leben
       Sie seit langen Jahren in Berlin. Haben Sie nie darüber nachgedacht, auch
       mal in Deutschland zu drehen? 
       
       Aïnouz: Es ist nicht so, dass ich noch nie in Deutschland gearbeitet hätte.
       Teile von „Futuro Beach“ habe ich in Berlin gedreht und natürlich auch den
       Dokumentarfilm „Zentralflughafen THF“. Aber ich bin vermutlich bis heute
       nicht komplett mit der deutschen Seele, der deutschen Kultur verbunden. Was
       natürlich auch daran liegt, dass Berlin sehr viel internationaler ist als
       Deutschland allgemein. Was ich dort, in meiner sehr durchmischten
       Nachbarschaft in Kreuzberg erlebe, ist eher kosmopolitisch als typisch
       deutsch.
       
       taz: Warum leben Sie denn selbst in Zeiten einer abermaligen
       Lula-Präsidentschaft lieber hier als in Brasilien? 
       
       Aïnouz: Ich war immer schon unterwegs und irgendwie auf der Flucht,
       vermutlich weil ich mich in Brasilien nie zu 100 Prozent zugehörig gefühlt
       habe. Vielleicht wegen meines Namens und meiner algerischen Wurzeln. Oder
       wegen meiner Homosexualität. Berlin war dann der erste Ort auf der Welt, wo
       ich gespürt habe: Hier gehöre ich hin. Die Stadt ist meine liebste
       überhaupt; ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, jemals wegzuziehen.
       Das Berlin, das ich erlebe, ist so, wie ich mir immer die Zukunft
       vorgestellt habe, nur im Hier und Jetzt. Eines Tages will ich wirklich auch
       mal einen kompletten Spielfilm dort oder überhaupt in Deutschland drehen.
       Bis dahin ist die Fotografie für mich die Brücke zwischen meiner Arbeit und
       meinem Zuhause. Deswegen war es mir auch so wichtig, im Frühjahr 2024
       endlich mal meine Fotos in einer Ausstellung zu zeigen.
       
       12 Nov 2024
       
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