URI: 
       # taz.de -- Männer und Normen: Opfer des Systems
       
       > Keine Gefühle zeigen dürfen, kein „Weichei“ sein: Auch Männer leiden
       > unter dem Patriarchat. Von einer echten Gleichberechtigung profitieren
       > auch sie.
       
   IMG Bild: Viele Männer meinen, ihre Probleme mit sich selbst ausmachen zu müssen
       
       Vor Kurzem schaute ich eine Doku des SWR-Formats „Vollbild“. Titel: „Männer
       als Opfer? Hilflos bei Gewalt und Stalking“. Im Film spricht die Reporterin
       mit Männern, die in einer Beziehung Gewalterfahrungen gemacht haben,
       emotional und physisch. Sie berichten davon, einige anonym, wenige mit
       Gesicht und Namen. Die Betroffenen erzählen, wie sehr die Angst sie davon
       abhielt, sich Hilfe zu holen. Die Angst, ausgelacht und nicht ernst
       genommen zu werden; die Angst, der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden,
       weil sie sich als Mann unterdrücken lassen. Die Angst, nicht als „echter
       Mann“ zu gelten.
       
       Während ich den Film anschaute, stellte ich mir wieder einmal die Frage:
       Was machen die patriarchalen Strukturen, in denen wir leben, mit Jungen und
       Männern? Zunächst: Häusliche und partnerschaftliche Gewalt trifft am
       häufigsten und in allererster Linie Frauen. Die Täter sind Männer. Diese
       systematische Gewalt gegen Frauen bedeutet aber nicht, dass das
       patriarchale System keine verheerenden Auswirkungen für Männer hätte; sie
       ist vielleicht sogar Ausdruck davon. Kinder, Jugendliche, erwachsene Männer
       – auch sie sind Opfer des Systems.
       
       Die männerfeindlichen Erzählungen in einem vermeintlich aufgeklärten Land
       wie Deutschland sind überall. Sie sind versteckt in Filmen, in der Werbung,
       in Schulbüchern, in Zeitungen, in der politischen Debatte. Es ist für
       Kinder unmöglich, dem zu entkommen, gleich, wie sehr sich Eltern Mühe
       geben, dem Jungen andere Botschaften mitzugeben. Die wohl destruktivste –
       meist unbewusste – Erzählung ist jene, nach der Jungs und Männer „schwach“
       seien, wenn sie Gefühle zeigten. Die Betonung liegt auf zeigen: Denn
       natürlich haben alle Menschen Gefühle, egal, welches Geschlecht sie haben.
       
       Was bedeutet das für einen Menschen, [1][wenn er glaubt, seine Emotionen
       nicht „zeigen“ zu dürfen? Er wird seine Gefühle unterdrücken]. Das heißt:
       Er wird niemals er selbst sein können; er wird sich niemals kennenlernen
       oder gar verstehen können; er wird niemals agieren, sondern immer
       reagieren; seine Gefühle werden sein Handeln ständig unbewusst beeinflussen
       und steuern. All das bringt: Schmerz und Scham.
       
       ## „Alter, das Patriarchat hat mein Leben ruiniert“
       
       Man versteckt den Menschen, der man im Inneren ist, und lernt, sich für
       diesen zu schämen. Das ist schmerzhaft. Es ist nicht „weiblich“, Gefühle zu
       erleben. Das ist eine absurde Erzählung. Frauen können es nur besser. Auch,
       weil sie es dürfen. Das macht sie stärker.
       
       Als er sieben Jahre alt war, hätten seine Schulkameraden ihm erklärt, dass
       ein Junge, der sich wie ein Mädchen verhält, ein „Weichei“ sei, schreibt
       der [2][Guardian-Journalist Matthew Cantor] in einem persönlichen Text mit
       dem Titel: „Alter, das Patriarchat hat mein Leben ruiniert – und deins
       auch“. Das mit dem Weichei habe ihn lange begleitet, so Cantor. „Warum war
       es für ein Mädchen ein Grund, stolz darauf zu sein, Sport zu treiben, aber
       eine Quelle der Scham für einen Jungen, wenn er dem Cheerleading-Team
       beitrat?“, fragt er. Die Antwort erscheint klar: Weil es gängigen Mustern
       entspricht.
       
       Es sei für Männer schwerer, Verbindungen zu anderen Menschen zu knüpfen,
       schreibt Matthew Cantor weiter. Natürlich ist es das – zum einen, weil
       Verbindungen zwischen Menschen über Emotionen geknüpft werden. Zum anderen,
       weil „echte“ Männer nicht nach Hilfe fragen dürfen, sie müssen ihre
       Probleme mit sich selbst ausmachen. Dass andere um Hilfe zu fragen, zu
       wissen, was man braucht, Ausweis von Stärke, nicht von Schwäche ist, passt
       nicht in diese destruktive Erzählung.
       
       ## Gesellschaftlicher Druck auf Männer
       
       Das alles macht Gewalt wahrscheinlicher: Eine Studie der US-amerikanischen
       Duke-Universität aus dem Jahr 2021 kommt zu dem Ergebnis, dass Aggressionen
       bei Männern mit dem gesellschaftlichen Druck zu tun haben, „ein Mann zu
       sein“. Das leuchtet ein: Menschen, die ihre Emotionen – Trauer, Angst,
       Schmerz – nicht kennen und damit auch nicht mit ihnen umgehen können,
       finden eine „Lösung“ in Aggression und Gewalt.
       
       Dazu ein paar Zahlen: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik waren im Jahr
       2023 knapp 60 Prozent der Opfer von Straftaten männlich. Speziell bei
       Raubdelikten (77 Prozent der Opfer männlich) und bei Körperverletzung (61
       Prozent) führen Männer die Statistik deutlich an. [3][Bei Straftaten gegen
       die sexuelle Selbstbestimmung sind hingegen 92 Prozent der Opfer Frauen].
       Die Täter wiederum: Männer. Männer sind Täter und Opfer zugleich.
       
       Heißt das, Männer hätten eine „Entschuldigung“, sexualisierte Gewalt
       auszuüben oder überhaupt Menschen Gewalt anzutun, nach dem Motto „Ich Armer
       kann nichts dafür, ich durfte meine Gefühle nicht zeigen“? Absolut nicht.
       Jeder Mensch ist für die Entscheidung verantwortlich, andere Menschen zu
       verletzen. Diese Verantwortung trägt er allein. Es geht um die Erzählungen,
       die unter dieser Gewalt liegen; Erzählungen, die eine Gesellschaft
       konstruieren und aufrechterhalten.
       
       ## „Echte Männer“ – in Wahrheit schwach
       
       Es ist somit gänzlich unpassend, wenn Männer sich als „Ally“ – also
       Verbündete – bezeichnen, die mit Frauen den feministischen Kampf kämpfen.
       Es ist genauso ihr Weg. Sie kämpfen für ihre Söhne, ihre Brüder, ihre
       Väter. Wenn Frauen gleichberechtigt sind, wenn die Zahl der Femizide sinkt,
       wenn sexualisierte Übergriffe nicht alltäglich sind – dann wird es auch
       Jungs und Männern besser gehen. Dann werden sie weniger Gewalt erfahren und
       weniger Gewalt ausüben. Dann werden vielleicht auch weniger Männer ihr Heil
       in der Wahl von Politikern suchen, die ihnen erklären, was „echte Männer“
       seien. „Echte Männer“ sind nichts anderes als die Essenz von Schwäche.
       
       „Obwohl mein Geschlecht vom Patriarchat profitiert, bittet kein Junge, der
       auf die Welt kommt, darum, Teil dieses Systems zu sein,“ schreibt Matthew
       Cantor in seinem Text im Guardian. Das ist wohl die Paradoxie: Männer
       profitieren von einem System, das sie gleichzeitig ruiniert. Es wäre Zeit,
       dagegen aufzustehen.
       
       30 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /MannSein-Event/!6017095
   DIR [2] https://www.theguardian.com/profile/matthew-cantor
   DIR [3] /Migrationspolitik/!6039842
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gilda Sahebi
       
       ## TAGS
       
   DIR Schlagloch
   DIR Männerbild
   DIR Gewalt gegen Männer
   DIR GNS
   DIR Gewalt gegen Männer
   DIR Kolumne übrigens
   DIR Frauenpolitik
   DIR Toxische Männlichkeit 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Zunehmende häusliche Gewalt: Schutzwohnungen jetzt auch für Männer
       
       In Hamburg und Hannover wurden erste Unterkünfte für männliche Opfer von
       häuslicher Gewalt eröffnet. Der Bedarf ist deutlich gestiegen.
       
   DIR Umgang mit Trauer: Deutschland, warum weinst du nicht?
       
       Spanien weint gemeinsam um die Opfer der Überschwemmungen. In Deutschland
       gäbe es genug Gründe, gemeinsam zu trauern. Warum gelingt uns das nicht?
       
   DIR Feministinnen über Latzhosenjahre: „Veränderungen brauchen Zeit“
       
       Marion Bolfeld und Dagmar Greiß gründeten in den 1980ern eine
       Frauenberatungsstelle in Schleswig-Holstein. Ein Blick zurück auf
       kämpferische Zeiten.
       
   DIR MannSein-Event: Kuscheln, Eisbaden & Brusttrommeln
       
       Auf Europas größtem Männer-Event tauschen sich in Berlin am Wochenende
       Männer über das „Mannsein“ aus. Es wird gekuschelt, gekämpft und
       eisgebadet.
       
   DIR Debatte Antifeminismus: Männer sind Opfer
       
       Seit dem Kachelmann-Prozess grassiert ein neues Angstbild: das Bild des
       Mannes, der falschen Anschuldigungen einer Frau anheimfällt.