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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Tätig sein, leben
       
       > Er war 30 Jahre lang Verleger, inzwischen ist Edmund Budrich 92 und
       > arbeitet immer noch. Ein Besuch in Leverkusen.
       
   IMG Bild: Budrich im Wohnzimmer. auf dem Flügel spielt er nicht mehr
       
       Das einzig Besondere an ihm sei doch, dass er dem Kalender ein Schnippchen
       schlage, meint Edmund Budrich. Ein wenig Koketterie ist schon dabei, wenn
       er es sagt.
       
       Draußen: Eine ruhige, sanft ansteigende Seitenstraße mit Einfamilienhäusern
       in Leverkusen-Schlebusch; das Bergische Land ist nicht weit. Wobei hier
       entlang der Straße noch nicht viel geboten wird, das zum Erholen einlädt.
       Hinter Budrichs Haus ist es dagegen schon schöner. Da fällt das wild
       bewachsene Gelände ab hinunter zu einem Bach.
       
       Drinnen: Das Herzstück des Hauses ist ein hoher Raum mit Blick in die
       Bäume. Ein schwarzer Flügel steht da. Ledersofas, Bücherregale und ein
       Katzenbaum. Denn für die zwei Schönheiten, Lio und Max, ist der Raum auch
       Revier. An der Wand hängen Drucke von Miro und Dali. Gefragt, ob ihm das
       eine, das wirkt, als sei es Text, Farbkomposition und Musiknotation in
       einem, aus der Seele spreche, weil es seine Leidenschaften vereint, meint
       Budrich, seine Frau habe es ausgewählt. Ihm gefallen die Segelboote, die
       darüber hängen, besser.
       
       Der Flügel: Edmund Budrich will nicht am Klavier fotografiert werden, er
       spiele nicht mehr. Sowieso hätten sie den mal als Esstisch gekauft. Er und
       seine zweite Frau, „wir waren 39 Jahre verlobt und sind drei Jahre
       verheiratet“, brauchten einen größeren Tisch, als sie zusammenzogen,
       schließlich waren da auch Kinder aus früheren Beziehungen. Sie seien
       losgezogen, um einen aufzutreiben und kamen mit einem Flügel zurück. Aber
       so ganz abwegig ist der Flügel nicht, denn Budrich studierte mal
       Musikwissenschaft. Allerdings nie zu Ende.
       
       Berlin: Budrich ist 1932 in [1][Berlin-Neukölln] geboren. Ein Jahr bevor
       die Nazis an die Macht kamen. Als Kleinkind hatte er Kinderlähmung, seither
       ist ein Bein verkürzt. Seine Mutter war Köchin, sein Vater Schuhmacher.
       Kein schlechter Beruf – vor allem in den späteren Kriegszeiten.
       
       Erinnerung: Gefragt, ob Budrich, er hat keine Geschwister, den Sound der
       Nazi-Aufmärsche und später den Sound der Bomben, die über Berlin abgeworfen
       wurden, noch im Ohr habe, bejaht und verneint er in einem. Schließlich
       seien Kindheitserinnerungen doch eine fragile Sache. „Wie viel ist selbst
       erinnert und wie viel wurde zur Erinnerung gemacht durch die Erzählungen
       der anderen?“ Die Bombenangriffe aber habe er hundertprozentig drauf. „Ich
       habe da ja schon Wasser geschleppt, Brandbomben gelöscht, ich war ja schon
       zwölf, als es schlimm war.“
       
       Strategien: Seine Kindheit und Jugend [2][in der Nazizeit] und im Krieg
       seien eigentlich normal gewesen. „Ich ging zur Schule, solange Schule war.
       Ich las, manchmal auch zusammen mit meinem Vater, Karl May etwa, leidlich
       wurde Musik gemacht. Aber die Verhältnisse waren nicht normal, mit Krieg
       und dann auch den Bombardierungen.“ Ob er bei Alarm an der Hand seiner
       Mutter in die Luftschutzkeller gerannt sei? Umgekehrt werde ein Schuh
       draus, er habe sie hinter sich hergezogen. Der Vater sei lieber in der
       Wohnung geblieben. Jedenfalls habe er sich in der Zeit auch durch eine
       private Leihbibliothek gelesen. „Das gibt es gar nicht mehr, private
       Leihbibliotheken.“ Er schließt nicht aus, dass seine Lektüre nicht
       jugendfrei war.
       
       Der Nachkrieg: Für ihn wurde das Leben nicht einfacher, nachdem der Krieg
       vorbei war. Der Vater, ursprünglich aus dem Baltikum stammend, trinkt mit
       den russischen Soldaten Wodka. Bis er eines Tages von den Russen verhaftet
       wird und nie mehr wiederkehrt. „Aufgrund historischer Erfahrungen mochten
       die Balten die Russen nicht“; unter Stalin seien sie schnell Staatsfeinde
       geworden. Nach dem Verschwinden des Vaters wird die Mutter krank. Er ist 13
       und muss, was von der Familie geblieben ist, zusammenhalten. Ein Geselle im
       Schuhmacherladen hilft mit. Die Mutter habe sich nie mehr richtig erholt.
       
       Straßenklugheit: Es sind die Nachkriegsjahre mit ihren eigenen Gesetzen,
       mit Mangel und Schwarzmarkt. Budrich, straßenklug, kämpft sich durch.
       Sowieso habe jeder jedem geholfen. Seinen Leidenschaften, dem Schachspiel,
       das sich die Jungs mehr oder weniger selbst beigebracht haben, und der
       Musik, geht er ungeschliffen nach in der Zeit, in der Ruinen der Spielplatz
       von ihm und seinen Kumpels waren.
       
       DDR-Bürger: Berlin Mitte, wo die Familie lebte, lag nach dem Krieg in der
       sowjetischen Besatzungszone und gehörte daher nach 1949 zur DDR. Sport
       spielt eine Rolle im jungen Staat, Schach gehört dazu. 1951 wird Budrich
       Jugendschachmeister der DDR und Dritter der gesamtdeutschen
       Jugendmeisterschaften. Ein Jahr später macht er Abitur und will unbedingt
       Musik studieren, nimmt Klavierunterricht deswegen, weil das gebraucht wird
       für die Aufnahme.
       
       Studium: Tatsächlich wird er angenommen an der Hochschule für Musik in
       Ostberlin, obwohl sein Vorspiel zu wünschen übrig gelassen habe. Der
       Ausbilder für Piano nämlich ist ein Schachfan, er kennt ihn, will ihn unter
       seine Fittiche nehmen. Da ist ein Blitzen in Budrichs Augen, als er es
       erzählt. Solange er in der DDR lebte, war sein Studienweg vorgezeichnet.
       Dann kam der Bruch.
       
       Im Westen: Er wechselt 1954 an die Freie Universität in Westberlin und
       erkennt sehr schnell: „Im Westen ist Musikwissenschaft ein Fach, das man
       sich leisten können muss.“ Im Grunde, meint er, sei es schon damals so
       gewesen, dass Leute, die nicht aus dem passenden Stand kommen, mit
       kulturwissenschaftlichen Fächern wenig Chancen haben. „Meine Mutter war
       Opernfan und nie in der Oper.“ Die Uni sei für ihn ein
       Selbstbedienungsladen gewesen. Er hört sich Vorlesungen anderer
       Fachbereiche an, Slavistik, Philosophie, Germanistik etwa. Ganze fünf
       Wochenstunden weise sein damaliges Studienbuch auf. Was er ansonsten
       gemacht hat: Gelesen, Nachhilfe gegeben, Klavier und Schach gespielt. „Ich
       fand das alles spannend.“ Wie es eigentlich sei, beim Schach zu verlieren?
       „Oh, man sieht das Schiff untergehen“, antwortet er.
       
       Einstieg ins Textgewerbe: Budrich und seine Schachkumpels hatten eine
       russische Schachzeitschrift abonniert. Wer die Schachnotationen kennt,
       könne das lesen. „Musiknoten sind auch universell.“ Jedenfalls übersetzte
       er manchmal Artikel über Partien und kam damit in Kontakt zu einer
       Schachzeitung. So fing das mit der Print-Branche an, in der Budrich seit 70
       Jahren zu Gange ist.
       
       Verlage: Als es mit der Uni nicht mehr lief, das Geld alle war, bewarb er
       sich beim Verlag Heiterer Literatur in Hameln an der Weser. Budrich bekommt
       den Job, ist „mit sämtlichen Prozessen konfrontiert, die in so einem Laden
       anfallen“, geht von da weiter zu anderen Verlagen, wird dann Werbeleiter
       für Westermanns Monatshefte, zieht 1960 weiter zum Westdeutschen Verlag,
       wird dort Co-Leiter. Der Verlag gehörte Friedrich Middelhauve, einem
       nationalliberalen FDPler, „der eine Menge Nazibeziehungen hatte“. Ob
       Budrich das leibhaftig erlebt hat, was die 68er anprangerten, dass nämlich
       Nazis überall in der Gesellschaft noch ihre Finger im Spiel hatten? Budrich
       bestätigt. Vieles habe er erst gar nicht verstanden, „Infos sickerten
       tröpfchenweise durch, die Leute haben sich getarnt“, auch heute erfahre er
       mitunter noch von Nazi-Verbindungen seiner ehemaligen Chefs und Kollegen.
       Manchmal hätte er die Reißleine ziehen und Beziehungen abbrechen müssen.
       
       Zwiespalt: Budrich meint aber auch, dass Gut und Böse zweischneidig seien
       beim Thema Vergangenheitsaufarbeitung. Einmal sei er sehr kritisiert
       worden, weil er über den begnadeten 17-jährigen Schachspieler Klaus Junge
       schrieb, der überzeugter Nazi war. „Nur, der ist mit 18 im Krieg gefallen.“
       Ob das nicht reiche, fragt Budrich? „Wenn heute aber ein emeritierter
       Professor durchs Land reist und Naziideen verbreitet, dann finde ich das
       furchtbar. Es gibt etliche.“
       
       Verleger: Zu Middelhauves kleinem Imperium gehörte auch der 1821 gegründete
       C.-W.-Leske-Verlag, der im deutschen Vormärz wichtig war. Als der
       Middelhauve-Konzern zusammenbrach, kaufte Budrich die Bestände des
       Leskeverlags und wird selbst Verleger des von ihm neu gegründeten
       Wissenschaftsverlags Leske + Budrich. 30 Jahre gibt er vor allem
       sozialwissenschaftliche Bücher heraus, wird wichtiger Verlag in diesem
       Bereich. 2003 verkauft er den Verlag an Bertelsmann. Bis heute aber ist er
       Mitherausgeber der Zeitschrift „Gesellschaft, Wirtschaft, Politik“, die er
       2004 von Bertelsmann zurückkaufte, weil ihm die rein kaufmännische
       Orientierung von Bertelsmann für diese Zeitschrift nicht gefiel. Ihm ging
       es um die Inhalte. Denn Denken, Reden, Schreiben, diese drei, seien die
       Essenz seines Lebens. Ginge es allein nach ihm, wollte er von allen Dreien
       zu viel. Früher sei er ein Arbeitstier gewesen. „Ich habe 24/7 gearbeitet
       und viel getrunken.“ Seine erste Ehe zerbrach daran. Nur, was hat ihm beim
       Entspannen geholfen? „Atmen in den Bergen finde ich gut.“ Gereist sei er
       aber nicht so gerne. Er wollte fremde Kulturen und andere Menschen nicht
       beobachten, als wäre er ein Besucher im Zoo.
       
       Und die Zukunft? Die eigene sieht er als Schachspiel. Sein Gegner: der
       Kalender. Die Zukunft der Jüngeren aber, die sieht er mit Sorge.
       
       22 Jan 2025
       
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