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       # taz.de -- Ausstellung mit Fotos von Nuri Musluoğlu: Kein Change in Deutschland
       
       > Künstlerin Pınar Öğrenci arbeitet für eine Hamburger Schau das Archiv von
       > Fotograf Nuri Musluoğlu auf. Er kam 1965 aus der Türkei nach Deutschland.
       
   IMG Bild: Nuri Musluoğlu, Kundgebung anlässlich des 50. Jahrestags der Machtergreifung, Mössingen, 1983 (Ausschnitt)
       
       Ein Straßenfest gegen Ausländerfeindlichkeit in Heilbronn 1982, eine
       ausgelassene türkische Hochzeit ein Jahr später. Menschenketten gegen
       Pershing-Raketen in Stuttgart 1984. Die „Protestbilder“, die derzeit im
       Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (MKG) zu sehen sind, schicken ihre
       Betrachter auf eine Zeitreise zurück in eine versunkene Epoche.
       
       Ihr Autor hat sich freilich nie als professioneller Fotograf verstanden.
       „Während meiner Zeit als Migrant in Deutschland habe ich an manchen Tagen
       bestimmte Dinge erlebt und beobachtet“, beschreibt der 1951 geborene
       Werkzeugmacher und Sozialarbeiter Nuri Musluoğlu bescheiden seine
       ästhetischen Motive. Er kam 1965 als Sohn türkischer „Gastarbeiter“ nach
       Heilbronn.
       
       Bei der Suche nach Leerstellen der Sammlung in Sachen Arbeitsmigration
       stieß das MKG auf das Privatarchiv des perfekt schwäbelnden Deutschtürken.
       Und verfiel auf die kluge Idee, dieses Konvolut vieler Hundert Bilder,
       Super-8-Filme und Tonaufnahmen von der Künstlerin Pınar Öğrenci aufarbeiten
       zu lassen. Die wurde 1973 im kurdischen Van geboren, rund zwanzig Jahre
       später als Nuri Musluoğlu.
       
       Pınar Öğrenci ist ausgebildete Architektin, sie arbeitet schon länger als
       Künstlerin. Nachdem [1][sie 2018 die Türkei wegen politischer Verfolgung
       verließ] und nach Deutschland kam, politisierte sich ihre Arbeit, sie
       wechselte zu Film und Video, stöberte in Archiven. Auf der documenta
       fifteen 2022 fand ihr Dokumentarfilm „Aşît“ (Säure) über ihren Vater und
       ihre Heimatstadt Van große Aufmerksamkeit.
       
       ## Das ist meine Geschichte
       
       Je länger Öğrenci den im Tiefschlaf schlummernden Bilderschatz von
       Musluoğlu durchforstete, desto klarer wurde ihr: Das ist meine Geschichte.
       Auch sie kam als Migrantin nach Deutschland, eine autoritär regierte Türkei
       hinter sich lassend, sieht sich mit Ausländer:innenfeindlichkeit,
       Rechtsextremismus, Arbeitskämpfen und Friedensdemos konfrontiert.
       
       Die eigens für das Museum entwickelte multimediale Installation, zu der
       Öğrenci die Bilder zusammengefügt hat, setzt zu Beginn der 80er Jahre ein.
       Das traumatische Jahr des Militärputsches in der Türkei schwemmt Tausende
       nach Deutschland. Dort ergeht es den Asylant:innen jedoch oft nicht
       besser.
       
       Eine Bilderfolge erinnert an die Proteste anlässlich des Suizids des
       Asylbewerbers Kemal Altun 1982 im Berliner Verwaltungsgericht. Eine andere
       an die Brandanschläge in Solingen und die Übergriffe in einem Jugendclub in
       Eberswalde, wohin Musluoğlu, der zeitweilig für die Zeitung Türkiye Postası
       schrieb, gereist war. Tief dringt dieser Alltagsbeobachter auch in die
       migrantische Kultur ein.
       
       ## Kontinuität politisch-kultureller Konfliktlinien
       
       Pınar Öğrenci zeigt die Bilder von Konzerten politisch verfolgter
       Musiker:innen aus der Türkei, die in Deutschland Asyl fanden: Şivan
       Perwer und Cem Karaca und die Sängerinnen Melike Demirağ und Sümeyra Çakır.
       
       Das Frappierende an der kleinen, eindrücklichen Schau: Obwohl rund 40 Jahre
       alt, belegen die Bilder eine Kontinuität politisch-kultureller
       Konfliktlinien in Deutschland. Es ist diese Kontinuität, die Öğrenci die
       Original-Tonspuren Musluoğlus in einem Akt künstlerischer Freiheit mit dem
       Audioschnipsel „Es reicht“ unterlegen ließ, mit dem CDU-Chef Friedrich Merz
       nach der [2][Messerattacke von Solingen in diesem Sommer] martialisch einen
       Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan verlangt hatte.
       
       Mit der Aufarbeitung des Archivs hat das Hamburger Museum ein bedeutendes
       Stück Kultur- und Migrationsgeschichte gesichert. Seine Sichtung beschert
       freilich die bedrückende Erkenntnis, wie wenig sich seit Musluoğlus
       obsessiver Augenzeugenschaft des ewigen Kampfs um „Survival und Resistance“
       (Öğrenci) während den 80er Jahren geändert hat – in der Türkei wie in
       Deutschland. „Kein Change“ nennt die Künstlerin ihr neues Werk.
       
       4 Dec 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
       
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