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       # taz.de -- Komponist über Konzert zum 75 Geburtstag: „Es ist zu laut in der Welt“
       
       > Komponist Erwin Koch-Raphael will mit Musik die Welt durchdringen. Die
       > ist kompliziert und in einem schrecklichen Zustand, gegen den anzutönen
       > ist.
       
   IMG Bild: Geflüchtete im Lager Malakasa: Erwin Koch Raphaels Musik protestiert gegen eine Welt, in der Menschen eingepfercht werden
       
       taz: Herr Koch-Raphael, viele Leute halten Neue Musik für schwer zugänglich
       und elitär. Wie [1][arbeiten Sie dagegen an]? 
       
       Erwin Koch-Raphael: Ach, das ist so ein alter Spruch. Aber inzwischen
       stimmt das schon lange nicht mehr. Diese Hörgewohnheiten, die immer noch
       auf Melodie und eine einfache Begleitung fixiert sind, sind ja gar nicht
       mehr so präsent. Da haben wir durch Punk und andere Strömungen der
       populären Musik doch ganz andere Sachen erlebt. Gegen das ist vieles in der
       Neuen Musik [2][sanft und gut hörbar]. Und sicher auch meine Musik. Ich
       gehe einfach davon aus, dass ich mit der Musik das, was ich sagen will, am
       besten sagen kann. Und etwas anderes kann ich auch gar nicht.
       
       taz: Sie könnten keine Melodie schreiben? 
       
       Koch-Raphael: Doch, ich kann Ihnen gerne drei Schlager innerhalb von zwei
       Stunden komponieren. Aber ich kann damit nicht ausdrücken, worum es mir
       geht. Das hat mir zu wenig Schichten.
       
       taz: Es wäre also doch die schlechtere Musik? 
       
       Koch-Raphael: Nein, ich bin total ein Freund dieser einfachen Musik. Als
       Schüler wollte ich eine Popgruppe gründen und habe in meiner Jugend als
       Organist gearbeitet, also improvisierte Liedbegleitung im Gottesdienst. In
       meiner [3][ersten Studienzeit noch] habe ich nur tonal komponiert, richtig
       romantische Lieder auf romantische Gedichte, Liebeslieder und so ein Zeug.
       
       taz: Aber das ist passé? 
       
       Koch-Raphael: Noch nicht mal das. Ich habe gerade erst so alte
       Klavierstücke von mir wiedergefunden, die wirklich so zum Teil auch sehr
       populär klingen, und überlege, sie jetzt mal für Orchester zu setzen und
       dazwischen Stücke zu montieren, die meinem heutigen Stil entsprechen. Ich
       könnte das jederzeit, aber ich denke selbst eher kompliziert. Schließlich
       ist auch die Welt komplex. Und ich versuche ja, sie durchs Komponieren zu
       durchdringen und über die Musik auf einen Punkt zu bringen, den man
       unmittelbar erfahren kann, ohne dass man genau weiß, was man jetzt
       eigentlich mitbekommen hat. Das ist ja das Schöne an der Kunst, dass immer
       wieder etwas unterschwellig passiert, immer etwas wird.
       
       taz: Ihre Musik ist schwer zu beschreiben: Also, wenn ich tief in die
       Partituren einsteigen würde … 
       
       Koch-Raphael: Bloß nicht! Das will ich ja gar nicht. Ich bin ein Musiker.
       Ich will über die Ohren wahrgenommen werden und nicht über Kopf und Augen.
       
       taz: Markant scheint mir, dass diese Musik um sich herum Ruhe schafft:
       Welche Rolle spielt Stille für Sie? 
       
       Koch-Raphael: Ja, Stille – das ist eine gute Frage. Es ist ein Innehalten,
       ein Sichbesinnen, aber eben auch ein Warten auf Antworten – wo auch immer
       die herkommen mögen. Ich will ja auch niemanden vollquatschen. Mir ist
       wichtig, einem Gedanken durch die Stille anschließend einen Raum zu geben.
       So kann jeder ihn auch für sich erst mal zu Ende führen oder bewusst
       wahrnehmen. Es ist zu laut in der Welt. Man hört ständig 1.000 Sachen
       übereinander gleichzeitig an jedem Ort. Man kommt gar nicht dazu, sie zu
       verarbeiten. Mit Stille gebe ich die Möglichkeit, dem Klang selber
       nachzugehen.
       
       taz: Viele Ihrer Stücktitel, auch die [4][auf dem Programm des
       Porträtkonzerts zu Ihrem 75. Geburtstag], beziehen sich auf andere Künste,
       auf Malerei und Literatur. Sind das Bearbeitungen? 
       
       Koch-Raphael: Nein, keine Bearbeitungen, das nicht. Das Verhältnis ist
       jedes Mal anders. Mal beziehe ich mich inhaltlich auf eine Vorlage aus
       Malerei oder Literatur, mal übernehme ich etwas Strukturelles oder ich
       fühle bloß eine Verwandtschaft der Ideen. Manchmal möchte ich einen Raum
       aufspannen, indem mehrere Künste etwas zu sagen versuchen, was sie nur im
       Zusammenspiel sagen können.
       
       taz: Zum Beispiel? 
       
       Koch-Raphael: Das Konzert am Donnerstag heißt ja „Zu.Flucht“, [5][so wie
       mein Stück für Flöte und Orgel, das in diesem Rahmen uraufgeführt wird].
       Als ich angefangen habe, das zu komponieren, habe ich bemerkt, dass es sich
       auf Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ [6][bezieht]. Dadurch wurde
       mir klar, dass es sehr viel mit Migration zu tun hat, also damit, dass man
       die Menschen abweist, sie einpfercht, sie nicht zu sich kommen lässt und
       ihnen jahrelang alles verweigert, was jeder Mensch haben darf. Ich finde in
       dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit gerade so viel Negatives, dass ich
       manchmal denke, da müssten jetzt alle Künste mal gemeinsam versuchen
       ranzugehen, weil: Wie erreichen wir die Menschen denn sonst? Ja doch sicher
       nicht durch immer mehr Radio- und Zeitungskommentare. Wir müssen tiefer
       gehen. Wir müssen die Menschen bewegen. Dafür suche ich die anderen Künste
       – als eine Art Verbündete. Das ist vielleicht die knappste Antwort, die ich
       hätte geben können.
       
       taz: Die Elektronik, die früher wichtig für Sie war, ist als mögliche
       Verbündete aber aus Ihrer Musik ausgeschieden? 
       
       Koch-Raphael: Die elektronische Klangwelt ist faszinierend. Sie ist auch
       sehr neu. Ich höre das sehr gerne. Aber in der Elektronik muss man immer
       dranbleiben, nachrüsten, nachkaufen. Das führt zu einer großen Abhängigkeit
       von Industrie und einer Wirtschaft, wie ich sie nicht mag, die immer
       schneller, immer weiter geht, die immer auf Wachstum setzt in einem
       Wahnsinnstempo, bei dem kein Mensch mehr mitkommt. Und wenn man da nicht
       mitmacht, ist man irgendwie unten. Also wenn ich schon unten sein soll,
       dann lieber aus freien Stücken, und nicht, weil mich der Kapitalismus dort
       hin getrieben hat. Ich habe ja früher ein bisschen elektronische Sachen
       gemacht …
       
       taz: Das ist jetzt Understatement: Sie haben Elektrotechnik studiert, waren
       auch am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe und haben 1990 in Bremen
       das Zentrum für [7][elektroakustische Musik] mitgegründet. Das war mehr als
       nur ein bisschen. 
       
       Koch-Raphael: Trotzdem ist Elektronik aus diesen gesellschaftlichen Gründen
       kein Thema mehr für mich. Ich habe auch kein Auto und kein Smartphone. Und
       eben nicht, weil ich technikfeindlich wäre. Das bin ich nicht. Ich bin
       Ingenieur. Aber ich akzeptiere das System nicht, dass uns zwingt, Sachen zu
       kaufen und zu nutzen, die wir nicht wirklich brauchen.
       
       6 Nov 2024
       
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   DIR [3] https://yun-gesellschaft.de/
   DIR [4] https://www.kirche-bremen.de/veranstaltung/zuflucht-portraetkonzert-zum-75-geburtstag-des-komponisten-erwin-koch-raphael-kulturkirche-st-stephani-bremen-1718469325/
   DIR [5] https://www.zum.de/Faecher/Mu/koch-raphael/pe/index.php?page=398&highlight=zu.flucht
   DIR [6] /!804583/
   DIR [7] https://www.hfk-bremen.de/de/ueber-die-hochschule/zentrale-orte/werkstaetten-und-studios/studio-fuer-elektroakustische-musik
       
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