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       # taz.de -- Abtreibung in den USA: „Blutet sie ausreichend, ist sie dem Tod nahe genug?“
       
       > N. Sydney Jemmott ist Aktivistin für reproduktive Gerechtigkeit aus
       > Atlanta. Im taz-Interview spricht sie über Zukunftsszenarien nach der
       > US-Wahl.
       
   IMG Bild: „Women's March in Washington DC, 9. November 2024
       
       taz: Frau Dr. Jemmott, Sie setzen sich für Reproduktionsrechte ein. Hat die
       Präsidentschaft Donald Trumps direkte Konsequenzen für Sie und Ihre Arbeit? 
       
       N. Sydney Jemmott: Auf persönlicher Ebene hat Trumps Wiederwahl eine
       Konsequenz für das Leben meiner sechzehnjährigen Tochter. Seit ihrer Geburt
       bestand meine größte Aufgabe darin, sie am Leben zu erhalten. Schon vor
       dieser Wahl wusste ich: Ich möchte auf keinen Fall, dass sie in einem der
       Südstaaten aufs College geht. Und das, obwohl wir in Atlanta leben. Für
       eine junge schwarze Frau im gebärfähigen Alter halte ich das für
       gefährlich. Gestern Abend kam ich in ihr Zimmer. Wir sprachen ernsthaft
       darüber, ob sie in Europa studieren sollte. Ich fühle mich sehr unwohl
       dabei, sie in den USA bleiben zu lassen.
       
       taz: Was macht die Situation aus Ihrer Perspektive gefährlich? 
       
       Jemmott: Was die Regierung unter Trump vorhat, steht detailliert im
       rechtsextremen [1][„Projekt 2025“] beschrieben, auch wenn er sich offiziell
       davon distanziert hat. Konservativ regierte Bundesstaaten wie Tennessee,
       Florida und auch Georgia sind ein Testgelände für eine Realität, die sich
       auf das ganze Land ausweiten wird.
       
       [2][Texas] führte 2021 das sogenannte [3][„Herzschlaggesetz“] ein, das
       Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche, also nach dem ersten
       Herzschlag, praktisch verbot, indem es eine neue rechtliche Strategie
       anwandte und die föderalen Schutzrechte umging. Der Oberste Gerichtshof der
       USA lehnte eine Eilklage gegen das Gesetz ab und ließ es in Kraft. Schon
       diese Entscheidung wurde als Wegbereiter für die Aufhebung von Roe v. Wade
       ein Jahr später angesehen. Seitdem ist in Texas die weibliche Sterblichkeit
       um 56 Prozent gestiegen. 2022 kamen auf Hunderttausend Frauen 18,9
       Todesfälle. Das ist etwa vier Mal so hoch wie zum Beispiel in Deutschland.
       Schwarze Frauen sind mehr als doppelt so oft von Komplikationen betroffen
       wie Weiße. Die Menschen, die diese Gesetze verabschiedet haben, wussten,
       dass Frauen und Menschen sterben werden. Dass Schwarze, Latinas,
       Migrantinnen, Frauen vom Land und ärmere Menschen überproportional
       betroffen sein werden. Und es war ihnen egal.
       
       taz: Auch für das Gesundheitssystem ist das eine verzwickte Lage. 
       
       Jemmott: In Idaho dürfen sie Schwangerschaftsabbrüche nur in Notfällen
       durchführen, wenn das Leben der Mutter – nicht aber ihr gesundheitliches
       Wohlergehen – gefährdet ist. Bestimmte Situationen können sich aber
       innerhalb kürzester Zeit verschlimmern, und man muss sofort entscheiden.
       Blutet sie genug, ist sie nah genug am Tod? Oder könnte der Arzt durch
       diesen Eingriff seine Zulassung verlieren und bis zu fünf Jahren ins
       Gefängnis kommen? Dieses Jahr wurden innerhalb von drei Monaten sechs
       Frauen mit dem Helikopter in benachbarte Staaten ausgeflogen, weil Ärzte
       sich nicht trauten, sie zu behandeln.
       
       taz: Die restriktive Gesetzgebung beeinflusst nicht nur einzelne Frauen,
       sondern auch die medizinische Infrastruktur in den Bundesstaaten. Zeichnen
       sich, seit Roe vs. Wade 2022 gekippt wurde, Trends ab? 
       
       Jemmott: Berichte zeigen, dass weniger junge Menschen in den Staaten
       studieren wollen, die eingeschränkte Abtreibungsgesetze haben. Und noch
       weniger bewerben sich auf Stellen für ihre medizinische Ausbildung nach dem
       Studium. Der Mangel an qualifiziertem Personal wird also wachsen und die
       Krise im Gesundheitssystem wird sich verschlimmern. Gerade für Frauen in
       ländlichen Gegenden ist das fatal. Ärzte sind ja nicht nur für Abtreibungen
       verantwortlich, sondern behandeln Patientinnen auch bei Fehlgeburten, die
       sehr häufig vorkommen.
       
       taz: Die Menschen, die für Donald Trump gestimmt haben, haben also auch
       dann gegen ihre eigenen Interessen gestimmt, wenn sie nicht unbedingt
       selbst eine Abtreibung brauchen. 
       
       Jemmott: Ich finde diesen Gedanken wahnsinnig befremdlich. Sie müssen dann
       möglicherweise von medizinischem Personal behandelt werden, dem die
       benötigte Ausbildung fehlt. Oder werden selbst in dringenden Fällen in
       überfüllte Kliniken eingeliefert, in die Frauen aus benachbarten
       Bundesstaaten strömen. Weil Staatsgelder nicht für Abtreibungen verwendet
       werden dürfen, haben viele Abtreibungskliniken geschlossen. Gerade der
       Personalmangel und die fehlende Infrastruktur sind Probleme auf
       Generationen, die zu reparieren lange dauern wird – selbst wenn die nächste
       Regierung demokratisch sein sollte.
       
       taz: Die Verteidigung des Rechts auf Abtreibungen hat eine private,
       emotionale Komponente, aber auch eine soziale und wirtschaftliche. Der
       Großteil der Frauen entscheidet sich für eine Abtreibung, weil sie schon
       ein oder mehrere Kinder haben und sich ein weiteres nicht leisten können. 
       
       Jemmott: Kinder gebären und aufziehen ist eine teure Sache. Diese
       politischen Beschlüsse bestimmen auch darüber, ob eine Frau einen Job hat
       und aktiver Teil des Arbeitsmarktes ist, einen stabilen Haushalt führt. Wer
       nicht abtreiben darf, dem wird diese Entscheidung zur Stabilität verwehrt.
       
       taz: Trotzdem ist die Zahl der dokumentierten Abtreibungen seit 2022
       landesweit angestiegen. Trotz der Restriktionen ist also das Gegenteil von
       dem eingetreten, was das Gesetz erreichen wollte.
       
       Jemmott: Diese Statistik ist erstaunlich, sie führt uns nur noch einmal die
       hohe Nachfrage vor Augen. Wahrscheinlich lässt sich der Zuwachs damit
       erklären, dass der nationale Diskurs sich gewandelt hat. Die
       Abtreibungspille mit dem Medikament Mifepristone wird heute doppelt so oft
       benutzt wie früher. Dabei ist diese Methode seit 25 Jahren zugelassen.
       Menschen informieren sich heute besser und das macht mir Hoffnung. Eine
       gute Nachricht ist auch, dass das Referendum in der texanischen Stadt
       Amarillo gescheitert ist. Dort wollte man Frauen kriminalisieren, die in
       Bundesstaaten reisen, in denen Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sind.
       Dieses Scheitern ist ein Hoffnungsschimmer. Alleine aus Georgia sind fast
       7.000 Frauen für Abtreibungen in andere Staaten gereist, etwa sieben Mal so
       viele wie 2020. Aber Trumps Wahlsieg wird uns neue Probleme bescheren.
       
       taz: Welche sind das? 
       
       Jemmott: Konservative Politiker:innen und
       Interessenvertreter:innen definieren den Zeitpunkt, ab dem eine
       Schwangerschaft beginnt, grundsätzlich anders; nämlich ab der Zeugung. Das
       ist keine medizinische Definition. Politische Entscheidungen ersetzen also
       wissenschaftliche Leitlinien. Wenn du einen Fötus als Mensch ansiehst,
       birgt jeder Fortpflanzungsakt die Gefahr, die Interessen und Rechte dieses
       Menschen zu verletzen. Bei den Gesetzesänderungen gehen sie strategisch
       vor: Am Anfang behandeln sie nur Abtreibung als isolierte Kategorie, die
       aus der regulären Gesundheitsfürsorge herausfällt. Als nächstes fallen auch
       Abtreibungspillen, die Pille danach und die Kupferspirale in diese
       Kategorie, wie auch Stammzellenforschung, die an Krebsmedikamenten
       arbeitet. Dreißig Prozent der Bundesstaaten haben heute Abtreibungsverbote
       oder Quasiverbote. Dort versucht man teilweise schon jetzt, diese neue
       Restriktionen durchzudrücken.
       
       taz: Viele fürchten, dass Donald Trump versuchen wird, demokratische
       Strukturen auszuhöhlen. Besteht auch eine Gefahr im Hinblick auf
       Reproduktionsrechte? 
       
       Jemmott: Von dieser Gefahr bekommt der Durchschnittsbürger wenig mit, aber
       Menschen, die im Bereich der Reproduktionsrechte arbeiten, stoßen ständig
       auf sie. Das beste Beispiel dafür ist Florida, wo ein
       Quasiabtreibungsverbot herrscht. Mehr als eine Million Menschen hatten im
       Vorfeld der Wahlen eine Petition zum Vorschlag unterschrieben, Abbrüche bis
       zur Lebensfähigkeit des Fötus zu erlauben, also von der 21. bis zur 24.
       Woche. Dafür brauchte man 60 Prozent der Wählerstimmen.
       
       taz: Sie scheiterten. 
       
       Jemmott:… mit 57 Prozent, eine Minderheit hat also gewonnen. Das Perfide
       bei der Sache: Im Vorfeld hatte das Gesundheitsministerium unter Gouverneur
       Ron DeSantis dem lokalen Fernsehsender NBS ein Ermittlungsverfahren
       angedroht – weil sie einen Werbeclip für das Referendum ausgestrahlt
       hatten. DeSantis finanzierte mit Steuergeldern Desinformationskampagnen
       gegen das Referendum und ließ seine „Voter Police“ von Haus zu Haus laufen
       und Menschen einschüchtern, die die Petition unterschrieben. Ja, ich bin
       sehr besorgt über die Gefahr einer Aushöhlung der Demokratie.
       
       18 Nov 2024
       
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