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       # taz.de -- 1.000 Tage Krieg in der Ukraine: Noch nicht verloren und nicht vergessen
       
       > Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. taz-Autor*innen
       > berichten aus einem geschundenen Land, in dem die Hoffnung noch nicht
       > verloren ist.
       
   IMG Bild: So viele Fähnchen, so viele Tote. Militärangehörige gedenken der getöteten Zivilist*innen und Soldat*innen in Kyjiw, April 2024
       
       Kyjiw, Luzk, Odessa, Cherson, Lwiw und Berlin taz | In der Nacht vom 23.
       auf den 24. Februar 2022 klingelt das Handy. „Es hat angefangen“, sagt
       Nastja, eine enge ukrainische Freundin. Seitdem sind 1.000 Tage vergangen
       und er tobt immer noch, Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine,
       der eine Zäsur in der europäischen Nachkriegsgeschichte ist. 1.000 Tage
       Tod, Leid, verheerte Seelen, weggebombte ukrainische Städte und Dörfer
       sowie zerstörte Familien, Träume und Hoffnungen.
       
       Doch mit jedem weiteren Tag, den Moskaus Feldzug andauert, scheinen wir uns
       mehr an das Grauen zu gewöhnen, business as usual, irgendwie alles ganz
       „normal“. Wirklich? In der Nacht zum vergangenen Sonntag überziehen
       russische Truppen die Ukraine – wieder einmal – mit [1][flächendeckenden
       Bombardierungen, den massivsten seit August] dieses Jahres. 120 Raketen und
       90 Drohnen werden abgefeuert. Mindestens fünf Menschen sterben.
       
       Das Ziel des Terrors kurz vor dem Wintereinbruch ist vor allem die
       kritische Infrastruktur, und die Intention klar: der zusehends erschöpften
       ukrainischen Bevölkerung die Lebensgrundlage zu entziehen und sie, einen
       drohenden Kältetod vor Augen, doch noch in die Knie zu zwingen.
       
       Militärisch hat Kyjiw diesen Angriffswellen derzeit nicht viel
       entgegenzusetzen. Unter enormen Verlusten, laut Chef des britischen
       Verteidigungsstabs Admiral Tony Radakin, allein im vergangenen Oktober
       täglich 1.500 verletzte oder getötete russische Soldaten, kämpfen sich
       Wladimir Putins Truppen in der Ostukraine vor, langsam aber stetig. Der
       Druck auf die verbliebenen ukrainischen Verteidigungslinien wächst von Tag
       zu Tag.
       
       Der ukrainischen Luftabwehr fehlt es an technischer Ausrüstung und
       personellen Ressourcen. Bemühungen, neue Soldat*innen zu rekrutieren,
       können das nicht ausgleichen. Das Webportal Ukrainska Pravda berichtet von
       fast 18.300 Menschen, die sich in der Zeit zwischen Januar und September
       2024 dem Einsatz an der Front entzogen hätten – viermal mehr, als im
       gleichen Zeitraum des Vorjahres.
       
       Als wäre das alles nicht schon deprimierend genug, wächst in der Ukraine
       die Angst, die Unterstützung westlicher Verbündeter könne nachlassen. Zu
       Recht. Zwar hat der scheidende US-Präsident [2][Joe Biden Kyjiw jetzt
       grünes Licht] gegeben, US-Raketen mit höherer Reichweite auch im russischen
       Hinterland einzusetzen. Der Wiedereinzug von [3][Donald Trump ins Weiße
       Haus] verheißt für Kyjiw perspektivisch jedoch nichts Gutes.
       
       Auch Noch-Kanzler Olaf Scholz gilt nach wie vor als unsicherer Kantonist.
       In seiner Regierungserklärung am Mittwoch vergangener Woche erteilt er
       sowohl dem Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium als auch
       der Lieferung des [4][Marschflugkörpers Taurus eine klare Absage]. Zwei
       Tage später telefoniert Scholz nach langer Zeit erstmals wieder mit
       Wladimir Putin. Der Erkenntnisgewinn dieses als Kotau vor dem Kremlchef
       kritisierten Anrufs ist überschaubar: Sollte es Verhandlungen geben, dann
       nur zu Moskaus Bedingungen.
       
       Vielleicht hätte Olaf Scholz Oleksandr Danylyuk zuhören sollen. Der
       ehemalige hochrangige ukrainische Militär- und Geheimdienstberater hält es
       für naiv zu glauben, Russland habe die Absicht, überhaupt über irgendetwas
       zu verhandeln. „Moskaus politisches Ziel ist es, die weltweite
       Sicherheitsarchitektur zu zerstören oder zumindest neu zu justieren“, sagt
       er.
       
       „Moskau wird Verhandlungen nutzen, um die westliche Unterstützung für die
       Ukraine zu reduzieren und seinen unheiligen Kreuzzug gegen den Westen
       fortzusetzen. Es gibt keinen Weg zurück zur Normalität. Dies ist ein
       globaler Krieg, den der Westen entweder gewinnen kann oder er wird besiegt
       werden.“ Barbara Oertel, Osteuropa-Redakteurin
       
       Das wertvollste, das wir haben: Die Menschlichkeit
       
       Von Yuliia Shchetyna, Kyjiw 
       
       Vielleicht hatte ich vor dem Krieg nicht verstanden, wie wichtig die
       Beziehungen mit anderen Menschen sind. Aber es ist die menschliche Güte,
       die warmherzige, aufrichtige, bescheidene, die uns hilft, diese Zeit
       durchzustehen.
       
       Als Journalistin sehe ich jeden Tag das wahre Gesicht des Krieges:
       sterbende Menschen, zerstörte Leben, zerrissene Familien. Jeden Tag lese
       ich in meinem Nachrichten-Feed von neuen Raketenangriffen und dem Beschuss
       der Zivilbevölkerung.
       
       Und natürlich höre ich auch selber die Angriffe auf Kyjiw in der Nacht: die
       Sirenen, das Heulen der Drohnen, die Explosionen. Jedes Mal denke ich dann,
       dass es auch mein Haus hätte treffen können. Nach solch einer Nacht ist
       meine Stimmung meistens sehr durchwachsen.
       
       Aber wenn ich dann zur Arbeit gehe und mich mit meinen Kollegen austausche,
       sehe ich Verständnis und Mitgefühl in ihren Augen.
       
       Im Laufe des Krieges habe ich verstanden, dass dieses aufrichtige
       Verständnis, diese Unterstützung, das Wertvollste ist, das wir haben.
       
       Meine Eltern leben am rechten Ufer des Dnipro im Gebiet Cherson. Ihr Dorf
       war acht Monate unter russischer Besatzung. Die Soldaten der Russischen
       Föderation haben dort ihre eigenen Regeln eingeführt: Sie haben
       Krankenhäuser beschossen, die Häuser der Einheimischen geplündert und
       proukrainische Zivilisten festgenommen. Und nach einigen Monaten hatten
       meine Eltern keinen Telefonempfang mehr, keinen Strom, keine Heizung – und
       keine Möglichkeit, sich frei zu bewegen oder zu kommunizieren.
       
       Mein Vater hat bei der Reparatur der verbliebenen Stromleitungen geholfen.
       Er kletterte selbst auf die Masten und reparierte die Leitungen, sodass die
       Menschen noch eine Zeitlang Strom hatten. Außerdem versorgte er mit seinem
       kleinen Boot die Nachbarn im Dorf, trotz der Gefahr durch Drohnen.
       
       Meine Mutter kochte gemeinsam mit den Nachbarn Essen für alte,
       alleinstehende Menschen; sie gab ihnen auch von dem Obst und Gemüse aus
       unserem Garten ab. Sie erfand neue Gerichte aus den wenigen, noch
       vorhandenen Lebensmitteln. Eins davon war ein Käsekuchen, den Mama
       „Kriegskuchen“ nannte.
       
       Meine Eltern hatten sich entschieden, unser Haus und unsere Nachbarn nicht
       zu verlassen. Unter den russischen Besatzern taten sich die Ukrainer, die
       dort geblieben waren, zusammen und halfen einander.
       
       Im Herbst 2023 wurde das Dorf meiner Eltern befreit und viele der Bewohner
       gingen an die Front. Wenn die Getöteten ins Dorf zurückgebracht werden,
       kommen alle auf die Straße, knien nieder und bilden so einen „lebenden
       Korridor“, um dem Soldaten für seinen Mut zu danken, mit dem er sein Volk
       geschützt hat. Die Menschen in der Ukraine nehmen sich jetzt häufiger
       gegenseitig in den Arm.
       
       Kommt jemand von meinen Freunden nach Kyjiw, versuchen wir, uns wenigstens
       für eine Stunde auf einen Kaffee zu treffen. Nie waren mir diese Treffen so
       wichtig wie gerade jetzt, wo jeder und jede von uns die Nächste sein
       könnte. Das hat nichts Pathetisches, das ist ukrainische Realität.
       
       In 1.000 Tagen Krieg habe ich verstanden, dass, selbst wenn ringsumher
       Chaos und Unsicherheit herrschen, die Menschlichkeit das ist, was uns
       verbindet.
       
       Aus dem Ukrainischen: Gaby Coldewey 
       
       Yuliia Shchetyna kommt aus dem Gebiet Cherson. 2022 floh sie nach Finnland,
       2023 war sie Praktikantin bei der taz. Anschließend kehrte sie in die
       Ukraine zurück und lebt jetzt in Kyjiw. 
       
       Was uns noch zum Weinen bringt: Die Kinder
       
       Von Tatjana Milimko, Odessa 
       
       Meine Kollegin kam in der letzten Woche weinend von einem Außentermin
       zurück in die Redaktion. Wir wussten, dass sie eine schlimme Woche gehabt
       hatte. Als Bildreporterin dokumentiert sie die Folgen der russischen
       Angriffe in Odessa. Und jede Nacht, jeden darauffolgenden Morgen der
       vergangenen Woche, musste sie ihre beiden Kinder zu Hause alleine lassen,
       um dorthin zu fahren, wo Raketen eingeschlagen hatten.
       
       Wir bemühten uns, sie zu trösten. Aber sie weinte nicht wegen der
       Zerstörungen und Toten, die sie gesehen hatte. Sie weinte, weil sie nach
       dem Beschuss die Geburt eines Kindes miterlebt hatte und sich darüber
       freute, dass das Leben weitergeht.
       
       Nach 1.000 Tagen Krieg weinen wir nicht mehr vor Kummer. Wir weinen beim
       Anblick des Lebens.
       
       In jeder ukrainischen Familie gibt es Kriegstote oder Verwundete. Die
       männlichen Journalisten, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe,
       mussten fast alle an die Front. Berufe, die früher Männern vorbehalten
       waren, zum Beispiel im Wachschutz, als Traktor- oder Lkw-Fahrer, werden
       jetzt von Frauen übernommen.
       
       Ich schreibe diesen Text im Bunker, denn Odessa wird wieder einmal mit
       Raketen und Drohnen angegriffen. Neben mir ist eine schwangere Frau, bei
       jeder Explosion versteckt sie sich hinter einem Pfeiler. Ihr Bauch ist
       schon so groß, dass man ihn auch trotzdem noch sieht. Ich schaue sie an und
       denke, dass das Leben trotz allem weitergeht.
       
       Meine Kinder leben jetzt in Österreich. Neulich habe ich sie besucht, mein
       Ältester hatte Geburtstag. Am Flughafen Wien fragte mich eine
       Sicherheitsbeamtin beim Anblick meines ukrainischen Passes, wie wir jetzt
       nach dem Krieg leben würden. Sie dachte wirklich, der Krieg sei vorbei,
       weil er in den österreichischen Medien kaum noch erwähnt wird.
       
       Dabei ist der Krieg gerade in einer sehr aktiven Phase. Die russische Armee
       zielt auf Wohnhäuser, beschießt das Heizungsnetz und veranstaltet
       sogenannte Drohnenjagden. Sie suchen nach ganz normalen Menschen und werfen
       dann [5][Sprengstoff über ihnen ab].
       
       Meine Kinder wollen nach Hause. Sie sehnen sich nach ihren Freunden. In
       ihrer österreichischen Schule denken auch alle, dass in der Ukraine kein
       Krieg mehr sei. Die Kinder müssen das Gegenteil beweisen. Während die
       russische Armee weiter ukrainische Schulen zerstört.
       
       In den 1.000 Tagen seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine
       sind mehr als 600 Kinder gestorben, fast 1.500 wurden zum Teil schwer
       verletzt. Ich kann meine Söhne nicht einem solchen Risiko aussetzen. Obwohl
       ich sie vielleicht eines Tages nicht mehr wiedersehen werde.
       
       Neulich wurden nach einem Beschuss von Krywyj Rih eine Mutter und ihre drei
       Kinder beerdigt, das jüngste noch keine zwei Monate alt. In den
       europäischen Medien wird darüber nicht mehr berichtet. Denn in den USA
       waren Wahlen.
       
       Und jetzt ist bald Weihnachten und Lieder wie „Carol of the Bells“ werden
       gespielt, komponiert von Mykola Leontowytsch in der Stadt Pokrowsk, die die
       russische Armee [6][fast dem Erdboden gleichgemacht] hat. So wie viele
       andere. Und doch möchten wir, dass das Leben hier weitergeht. Wir möchten
       den Tod aufhalten.
       
       Aus dem Russischen: Gaby Coldewey 
       
       Tatjana Milimko wurde in Odessa geboren und lebt bis heute dort. Ihre zwei
       Söhne hat sie nach Österreich evakuiert. Seit 2022 schreibt sie für die
       taz. 
       
       Das Gegenteil von Krieg: Die Kultur
       
       Von Juri Konkewitsch, Luzk 
       
       Eines Tages im September hatte ich eine verrückte Woche, wenn eine solche
       Formulierung für ein Land angemessen ist, das in einen völkermörderischen
       Krieg verwickelt ist. Dann aber bestätigte sich meine Annahme, dass in der
       Ukraine zwar Hunderte Menschen sterben, Dutzende Städte zu Staub zerfallen,
       gleichzeitig jedoch das kulturelle Leben einem kraftvollem, pulsierendem
       Strom gleicht.
       
       Zunächst kaufte ich Karten für zwei Konzerte in Luzk. Einmal für ein
       Rockmusical über die kulturelle Wiedergeburt der Ukraine in den 1920er- und
       30er-Jahren unter Stalin, die anderen für den Auftritt der populären Gruppe
       „Pirog und Batik“, die die Worte ukrainischer Dichter des 20. Jahrhunderts
       vertont.
       
       In derselben Woche guckten meine Frau und ich uns zwei neue ukrainische
       Filme an. „Me and Felix“ ist die Geschichte eines Teenagers in den
       1980er-Jahren, „Dowbusch“ ein historisches Drama aus dem 18. Jahrhundert,
       das vor dem Krieg gedreht wurde. Später erfahre ich, dass fünf Menschen aus
       dem Filmteam umgekommen und sieben verschwunden sind. Der Kameramann aus
       Luzk, Sergej Michaltschuk, arbeitet für den Geheimdienst in der russischen
       Region Kursk.
       
       Ein paar Tage später landete ich in Lwiw bei einer Buchmesse. Früher war
       das eine Kultveranstaltung für alle ukrainischen Verlage, die dort ihre
       Neuerscheinungen vorstellten. Seit Beginn des Krieges 2022 hat sich die
       Messe zu einer Diskussionsplattform entwickelt, die Intellektuelle
       zusammenbringt. Ich konnte mehrere Veranstaltungen nur im Stehen verfolgen,
       so groß war der Andrang.
       
       Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich weiß, in welchem Land und
       zu welcher Zeit ich lebe. Zwischen all diesen Ereignissen der „verrückten
       Woche“ habe ich mir ständig die Luftalarmwarnungen angeguckt, mehreren
       Soldaten die letzte Ehre erwiesen und meinem Sohn, er studiert in Lwiw,
       Ratschläge gegeben, wie er am besten in einer Notunterkunft übernachten
       kann.
       
       Aber Kultur ist wichtig, weil sie Dinge beeinflussen kann. Es ist kein
       Zufall, dass russische Truppen unsere Museen und Theater zerstören,
       geplünderte Ausstellungsstücke entfernen und abtransportieren und Bücher
       aus Schulbibliotheken verbrennen. Wenn wir die Kultur bewahren, wird die
       Welt erkennen, wie schrecklich die russischen Verbrechen sind. Deshalb wird
       für unsere Freiheit gleichzeitig in den Schützengräben an der Front und in
       Kunstgalerien, Theatern und Hörsälen von Universitäten gekämpft.
       
       Gerade als ich diesen Text fertigstelle, stoße ich im Internet auf ein Foto
       von der Eröffnung einer neuen Buchhandlung in Luzk. Fantastisch! Die Leute
       haben eine Stunde auf das Autogramm einer Schriftstellerin gewartet.
       
       Das Wesen des Krieges ist Zerstörung. Er zerstört sowohl die Materie als
       auch das Unsichtbare – Emotionen, die Psyche, den Glauben an die
       Menschheit, Verbindungen zwischen Menschen. Daher ist die Negation des
       Krieges nicht Frieden, sondern Kultur: die Schaffung von etwas Neuem.
       
       Aus dem Russischen: Barbara Oertel 
       
       Juri Konkewitsch kommt aus dem westukrainischen Luzk, wo er bis heute lebt.
       Seit 2022 berichtet er regelmäßig für die taz. 
       
       Das ist nicht normal: Der Gewöhnungseffekt
       
       Von Roman Huba, Kyjiw 
       
       Ich schreibe diesen Text am 994. Tag des russischen Großangriffs auf die
       Ukraine, und bei mir ist alles ganz normal. In meiner völlig normalen Küche
       pfeift ein völlig normaler Teekessel, leuchtet eine völlig normale
       Glühbirne, ein völlig normaler Heizkörper spendet völlig normal Wärme. Und
       ich schätze, dass auch Sie diesen Text unter völlig normalen Bedingungen
       lesen.
       
       Vor wenigen Minuten jedoch las ich, dass gerade eine ballistische Rakete
       über dem Teil von Kyjiw abgeschossen wurde, in dem ich wohne. Am Himmel
       über uns fliegen iranische Drohnen mit russischer Registrierung (oder
       umgekehrt) und irgendwo über dem Kaspischen Meer kreisen Trägerraketen für
       Marschflugkörper.
       
       Die Angriffe werden immer von einer Sirene angekündigt, die routinemäßig
       zwei-, dreimal pro Nacht ertönt. Manchmal schlafen wir einfach weiter.
       Wegen eines Raketenangriffs geht fast niemand mehr in den Schutzraum.
       
       So sieht unsere Normalität aus. Es hat nicht einmal Sinn, jemandem davon zu
       erzählen. Oder teilen Sie mit jemandem ihre Eindrücke von der morgendlichen
       Dusche oder vom Zähneputzen?
       
       „Das ist einfach ein Anpassungsprozess“, sagt der aufmerksame Leser. „Sonst
       würdet ihr verrückt. Und überhaupt, in Kyjiw ist doch noch alles mehr oder
       weniger in Ordnung, sogar in Charkiw kann man leben – und selbst in
       Pokrowsk leben die Menschen ja noch irgendwie.“
       
       Ich schreibe dies, um mich selber daran zu erinnern, dass all das ganz und
       gar nicht normal ist.
       
       Es ist nicht normal, dass nun schon das dritte Jahr in Folge die Menschen
       abends mit der Angst ins Bett gehen, am nächsten Morgen vielleicht nicht
       mehr aufzuwachen. Es ist nicht normal, dass die einen Angst um ihre
       Liebsten haben, die sich nicht mehr von der Front melden, während andere zu
       Hause bleiben, aus Angst, sonst an die Front zu müssen.
       
       Es ist nicht normal, dass Menschen Kaliumjodid kaufen, um für den Fall
       eines Atomschlags gewappnet zu sein. Dass ein tot aufgefundener Ehemann
       oder Sohn ein „gutes Ergebnis“ ist, besser jedenfalls, als wären sie
       „vermisst“.
       
       Auch, dass mein Haus zerstört wurde, ist nicht normal. Und dass es
       Millionen solcher zerstörter Häuser gibt. Es ist nicht normal, dass meine
       Mutter in einem fremden Land leben muss. Dass geliebte Menschen nie mehr
       nach Hause kommen.
       
       Es ist nicht normal, dass Russland die Ukraine überfallen und die Mehrheit
       der Russen das unterstützt hat. Und dass viele von ihnen immer noch von
       „Putins Krieg“ sprechen, und nicht vom russisch-ukrainischen.
       
       Es ist absolut nicht normal, dass all das schon 1.000 Tage andauert – und
       wenn man von der Krim-Annexion an rechnet, dann schon zehn Jahre. Also ein
       Drittel meines Lebens. Hunderttausende Tote, besetzte Gebieten, zerstörte
       Infrastruktur. Die Ukraine muss damit leben. Und oft scheint es so, als sei
       all dies für immer.
       
       Aus dem Russischen: Gaby Coldewey 
       
       Roman Huba stammt aus der Ostukraine und ist nach Kriegsbeginn aus dem
       Donbass nach Kyjiw gekommen. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops
       der taz Panter Stiftung. 
       
       Was uns eine Chance gibt: Mut und Solidarität
       
       Von Rostyslav Averchuk, Lwiw 
       
       Von einem Foto schaut mich ein elegant gekleideter, lächelnder junger Mann
       mit verträumtem Blick an. Witaliy Pochila hat acht Jahre lang in Spanien
       gelebt, doch nach dem Beginn der russischen Invasion ließ er alles hinter
       sich – ein erfolgreiches Unternehmen, Freunde, Pläne für die Zukunft –, um
       sich der ukrainischen Armee anzuschließen.
       
       Ein ähnliches Foto in Zivil lehnt an einer Seite des Gedenksteins, der seit
       zwei Wochen auf seinem Grab steht. Auf der anderen ein zweites Foto – er
       trägt bereits eine Uniform und hat eine Waffe – er wirkt müde, ist
       unrasiert, aber er lächelt immer noch.
       
       An Witaly denke ich immer dann, wenn wir in der Statistik die Opfer dieser
       ungerechten Aggression nach Zivilisten und Militärs aufteilen. Wie zwei
       Seiten derselben Medaille erinnert uns dieser Gedenkstein daran, wie der
       Krieg das Leben tausender Männer und Frauen veränderte, die ohne
       militärische Erfahrung zu den Waffen gegriffen hatten.
       
       Als russische Truppen vor 1.000 Tagen in die Ukraine einmarschierten, waren
       es genau solche Menschen, die, wie Witaly, Wladimir Putins Karten neu
       mischten und alle Berechnungen für eine schnelle Besatzung zunichte
       machten. „Er war immer da, wenn es nötig war, andere zu schützen“, erinnert
       sich die Freiwillige Tetiana Shabliy, die Witalys Freunde weiter
       unterstützt, die kämpfen oder ihre Verletzungen auskurieren.
       
       Wahrscheinlich war ihnen damals gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie
       ihr Leben würden geben oder jahrelang kämpfen müssen. Da wirkten tiefe
       Überzeugungen und Werte wie „Mut“ und „Ehre“. Heutzutage sieht man in der
       Nähe von Einberufungsämtern keine Schlange mehr. Das Gerede von Sieg und
       Heldentum, das Politikern über die Lippen kommt – noch dazu inmitten von
       Korruptionsskandalen – irritiert viele müde und verwundete Soldaten. Aber
       es ist der Mut der einfachen Soldaten, der uns weiterhin eine Chance gibt.
       
       Die vorsichtige und zögerliche Unterstützung der Verbündeten führt jedoch
       ebenfalls dazu, dass viele Angst davor haben, zur Armee zu gehen, da diese
       nicht über die nötigen Waffen verfügt, um die zahlenmäßige Überlegenheit
       der Russen auszugleichen.
       
       „Die Infanterie – das sind gewöhnliche Menschen, die sich, sei es dem Ruf
       ihres Herzens folgend oder der Notwendigkeit gehorchend, unter einem
       „Pixel“ (der Name der ZSU-Armeeuniform) vereint haben, um ihr Zuhause, ihre
       Familie und ihre Stadt zu verteidigen“, sagt Anatoly Stasiuk aus Winnyzja.
       Von den ersten Kriegstagen an stand er an vorderster Front. Er kämpft
       weiter, auch nachdem er durch eine Mine einen Fuß verloren hat. Seine Ruhe
       verblüfft. „Ich verstehe die Menschen, die Angst haben und nicht zur Armee
       gehen. Hauptsache, sie beteiligen sich zumindest irgendwie an der
       Verteidigung – das geht ohne Waffe. Nur gemeinsam können wir unser Land
       verteidigen“, sagt er.
       
       Anatoly und andere Soldaten erzählen nur einen Teil dessen, was an der
       Front passiert. „Alles ist in Ordnung. Wenn sie nicht auch noch geschossen
       hätten, wäre es großartig gewesen!“, erzählt mir mein Cousin Jaroslaw. Er
       ist 50 Jahre alt, ein maßvoller Mann, der vor der Mobilisierung in einer
       Kleinstadt Weinbau betrieben hat.
       
       Jaroslaw setzt alles daran, seine Mutter zu beruhigen, die vor lauter
       Kummer weder ein noch aus weiß. Auch ich mache mit Sorgen um ihn und zwei
       weitere Cousins, die sich den Streitkräften angeschlossen haben, als sie
       das Gefühl hatten, nicht einfach zusehen zu können, während ihre Freunde
       kämpften.
       
       Vielleicht wären mehr Menschen und Politiker im Ausland bereit, diesen
       Soldaten zu helfen, wenn deren Schmerz und Wunden offener gezeigt würden?
       Andererseits kann das die Angst verstärken, die Verbündete davon abhält,
       entschiedener gegen Wladimir Putin vorzugehen, dem das Leben seiner eigenen
       und anderer Soldaten nichts bedeutet. „Wir wissen, dass wir für das
       Überleben des Landes kämpfen – das ist unsere Hauptmotivation“, sagt Taras,
       ein 26-jähriger Freiwilliger aus Kyjiw. „Aber es ist schwer zu vermitteln,
       wie viel einfacher es für uns ist, wenn wir das Gefühl haben, nicht allein
       zu sein.“
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel 
       
       Rostyslaw Averchuk ist freier Journalist in Lwiw. Er war Teilnehmer eines
       Osteuropa-Workshops der [7][taz Panter Stiftung].
       
       19 Nov 2024
       
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