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       # taz.de -- Erstes Linkin-Park-Album nach 7 Jahren: Neuer Anfang vom Ende
       
       > Mit „From Zero“ belebt die Band Linkin Park sieben Jahre nach dem Suizid
       > ihres Sängers den eigenen Sound wieder – mit Erfolg. Erleben wir eine
       > popkulturelle Renaissance?
       
   IMG Bild: Mike Shinoda (l.) und Emily Armstrong mit Linkin Park beim Konzert in Hamburg, 22. September 2024
       
       Nicht immer ist in der Welt der Popmusik leicht zu verorten, wann etwas
       angefangen hat. War Elvis Presley wirklich der Erfinder des Rock ’n’ Roll,
       oder verwandelte er nur afroamerikanischen Rhythm and Blues in eine „weiße“
       Variante? War 1977 wirklich eine Geburtsstunde des Punk, oder nur
       Kulmination dessen, was zuvor als sogenannter Garage Rock brodelte?
       
       Enden findet man in der Popmusik hingegen recht leicht, oder besser:
       Anfänge von Enden. Mit dem Suizid von Kurt Cobain 1994 war Grunge
       vielleicht noch nicht vorbei, aber ein Niedergang wurde eingeläutet. Ein
       paar Jahre später existierte das Genre leicht modernisiert, aber eher
       randständig als Post-Grunge. So innovativ und relevant wie zu [1][Nirvanas]
       Zeiten wurde der Stil nie wieder.
       
       Als Chester Bennington, Sänger der Band Linkin Park, sich 2017 das Leben
       nahm, hatte das eine tragische Parallele: Auch er verehrte Kurt Cobain,
       hatte einst eine Post-Grunge-Band namens Grey Daze. Auch er kam aus
       schwierigem Elternhaus, hatte seine Jugend mit exzessivem Drogenkonsum
       verbracht, kämpfte mit Süchten. Auch sein Tod läutete das Ende eines Genres
       ein.
       
       ## Zwischen Verletzlichkeit und Zorn
       
       Ähnlich wie Cobains konnte Benningtons Stimme enorm wütend, aber auch
       zerbrechlich sein. Es war dieses Element, das Linkin Park Anfang der
       Nullerjahre erheblich von anderen Bands unterschied, die sich zur selben
       Zeit an einer Mischung aus Rap- und Rockmusik – genannt [2][„Nu Metal“] –
       versuchten. Linkin Park fehlte das testosterongeladene Getue von Limp
       Bizkit, die entrückte Brutalität von Slipknot, Korn oder Disturbed,
       stattdessen konnten sich insbesondere viele Teenager mit Benningtons
       Verletzlichkeit und seinen zornigen, kathartischen Entladungen
       identifizieren.
       
       Während manche Plattenbosse aufgrund einer gerade populär werdenden
       Technologie namens Internet und dem damit einhergehenden Filesharing das
       Ende der Musikindustrie prophezeiten, nutzten Linkin Park die neuen
       Möglichkeiten, um sich bekannt zu machen. Insbesondere durch ihre beiden
       ersten Alben „Hybrid Theory“ (2000) und „Meteora“ (2003) wurden sie zu
       einer der kommerziell erfolgreichsten Bands des beginnenden 21.
       Jahrhunderts.
       
       Dass sie es bleiben würden, danach sah es nach Benningtons Tod nicht aus.
       Mit Nu Metal hatte schon der späte Linkin-Park-Sound immer weniger zu tun,
       Newcomer in diesem Bereich gab es so gut wie keine mehr. Sieben Jahre lang
       veröffentlichte die Band nichts, wies Gerüchte über Nachbesetzungen stets
       zurück.
       
       ## Aufruhr um Armstrongs Scientology Vergangenheit
       
       Dann verkündete die Gruppe im September dieses Jahres überraschend ihr
       Comeback. Bei einer Veranstaltung stellten die Mitglieder Emily Armstrong,
       die zuvor in der mittelmäßig bekannten Band Dead Sara spielte, als neue
       Sängerin vor. Ihren Einstand gab diese live mit einem neuen Song, „The
       Emptiness Machine“. Etwa ein Jahr war dieser Schritt vorbereitet und streng
       geheim gehalten worden.
       
       Vergangene Woche erschien dann „From Zero“, das erste Linkin-Park-Album mit
       Armstrong am Mikrofon, die sich als nahezu perfekte Besetzung herausstellt.
       Weder transportiert sie, eine bemühte Kopie ihres berühmt verstorbenen
       Vorgängers sein zu wollen – was die Fans nie verziehen hätten –, noch lässt
       ihre Stimme wichtige Charakteristika vermissen. Glasklare Balladen („Over
       Each Other“) liegen ihr ebenso wie eine kehlige Zerrstimme, mit der Linkin
       Park nun vielleicht einen ihrer härtesten Metal-Songs jemals produziert
       haben („Casualty“).
       
       Ein kurzer [3][medialer Aufruhr über Armstrongs Scientology-Mitgliedschaft]
       und ihre frühere Unterstützung eines verurteilten Sexualstraftäters und
       Sektenkollegen ging vorüber.
       
       Stattdessen befindet sich die Band auf einem Erfolgskurs wie zuletzt vor 20
       Jahren – und übertrifft sogar alte Rekorde. „The Emptiness Machine“
       erreicht als erster Linkin-Park-Song Platz 1 der deutschen Single-Charts.
       Angekündigt ist eine Welttournee mit 59 Terminen. Wie groß der Anteil des
       nostalgischen Effekts an diesem Erfolg ist, beweist, dass auch
       jahrzehntealte Linkin-Park-Songs wie Numb dank Streaming wieder in die Top
       100 rutschen.
       
       ## Neue Rekorde gebrochen
       
       Wenngleich „From Zero“ ein gut gearbeitetes Album ist, klingt es über weite
       Strecken hinweg wie etwas, das der [4][Kulturtheoretiker Mark Fisher] einst
       als „geisterhaft“ beschrieb: ein Stil, der längst nicht mehr lebendig ist,
       kulturindustriell erneuert („Retro“). Der Song „Heavy is the Crown“ etwa
       hat die langen Oktavakkorde, die kurzen Rap-Parts Mike Shinodas, den
       ausufernden Chorus und die abrupt-kräftige Bridge. Es ist ein
       eigenständiger Song, legt man ihn aber etwa neben „Faint“ aus dem Jahr
       2003, sind strukturelle Ähnlichkeiten mehr als auffällig. „From Zero“ fängt
       oft wörtlich „von vorn“ an.
       
       Damit reiht sich „From Zero“ ein in eine ganze Handvoll jüngerer Alben, die
       wohl bewusst wie Erinnerungen an sich selbst klingen sollen: Die Pop-Punker
       blink-182 veröffentlichten 2023 das Album „One More Time …“ (!), auf dem
       sie sich durch ihre eigenen Jahrzehnte Bandgeschichte spielen. Limp Bizkit,
       Green Day, Sum 41, Avril Lavigne, Fall Out Boy – reihenweise
       Künstler*innen aus der Jugendzeit der Millennial-Generation touren
       wieder und schrieben in den vergangenen Jahren, oft nach längerer Pause,
       mit Erfolg Musik, die „wie früher“ klingt.
       
       Parallel dazu hat die nachfolgende Alterskohorte, „Generation Z“, mit
       [5][Billie Eilish] oder [6][Olivia Rodrigo] auch in ästhetischer Hinsicht
       den „Y2K-Stil“ für sich wiederentdeckt. Die tief sitzenden, weiten Jeans,
       die Neonfarben, Plateauschuhe und Gothic-Symboliken sind nicht dieselben,
       aber die gleichen.
       
       ## Nostalgische Gefühle
       
       Für Fisher waren solche wiederkehrenden Trends Ausdruck einer
       systematischen Fantasielosigkeit westlicher Popkultur, die mit der
       Unfähigkeit korrespondiert, eine Alternative zum Kapitalismus zu denken.
       
       Neu am Nullerjahre-Comeback ist aber, dass der hier revitalisierte Sound
       keineswegs so alt ist, dass die anvisierte Zielgruppe sich nicht daran
       erinnern könnte. Dass die Bands und Labels darauf abzielen, mit den
       nostalgischen Gefühlen der sich nun im besten
       Arbeitnehmer*innenalter befindlichen Millennials abzukassieren, wird
       kaum verborgen. Interessant ist, dass diese es dankbar annehmen.
       
       Warum ausgerechnet diese Generation sich nach ihrer unmittelbaren
       Vergangenheit sehnt wie Greise nach ihrer Kindheit, und für die Simulation
       gutes Geld bezahlt, lässt sich vermuten. Eine zügiger werdende
       weltpolitische Krisendynamik könnte daran schuld sein. Popkulturell bleibt
       eine Renaissance – lauter neue Anfänge vom immer gleichen Ende.
       
       19 Nov 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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