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       # taz.de -- Repression gegen die linke Szene: Angst als politisches Kalkül
       
       > Hausdurchsuchungen und Überwachungsmaßnahmen: Der Staat geht zunehmend
       > härter gegen die linke Szene vor. Was macht das mit den betroffenen
       > Menschen und Strukturen?
       
       Berlin, Jena und Leipzig taz | Die Nacht auf den 15. März 2023 endet für
       Ronja und Piet M. abrupt. „Aufmachen, Polizei!“, hören sie von draußen.
       Eine Einheit des Thüringer SEK steht auf der Terrasse des Hauses der beiden
       Eltern, die aus Angst vor Nazis ihren echten Namen nicht in der Zeitung
       lesen wollen. Kaum hat Piet M. die Terrassentür geöffnet, so erzählt er es
       der taz, ziehen die Polizist:innen den völlig nackten Mann in die Nacht
       und werfen ihn auf den kalten Steinboden. Beamte fesseln seine Hände auf
       dem Rücken mit Kabelbindern, knien auf seinem Oberkörper. M. muss später
       vom Notarzt behandelt werden.
       
       Im ersten Stock rennt seine Tochter ans Fenster. „Ihr bringt meinen Papa
       um! Lasst meinen Papa in Ruhe!“, schreit sie. Die Beamt:innen stürmen
       ins Schlafzimmer, erzählen die M.s weiter, wo nicht nur die beiden Eltern,
       sondern auch ihr damals 8-jähriger Sohn geschlafen habe. Gleichzeitig
       schlagen Polizist:innen in der Küche eine Glastür mit einer Ramme ein.
       Ronja M. hört das Rumpeln der Treppe, als die Beamt:innen in den ersten
       Stock vorrücken – wo sich die Zimmer der beiden anderen Kinder, damals 13
       und 16 Jahre, befinden. Auch diese Räume werden von bewaffneten und
       vermummten SEK-Kräften gestürmt. „Auf den Boden, ich will deine Hände
       sehen!“, habe ein Beamter die 16-jährige Tochter der M.s angebellt.
       
       Auf taz-Nachfrage zu den Ereignissen während der Durchsuchung haben sich
       das LKA Thüringen, die Staatsanwaltschaft Dresden und die
       Generalbundesanwaltschaft nicht geäußert. Man äußere sich nicht zu
       laufenden Verfahren, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft.
       
       Keiner der an diesem Morgen im Haus anwesenden Menschen hat etwas
       verbrochen. Die Polizei ist auf der Suche nach der ältesten Tochter der
       M.s, die sich damals seit einem Monat ihrer Verhaftung entzieht. Die
       Beamt:innen verdächtigen sie, sich im Februar 2023 in Budapest an
       Angriffen auf Neonazis beteiligt zu haben, die sich dort für einen
       SS-Gedenkmarsch zum „Tag der Ehre“ trafen. Zuletzt waren im sogenannten
       Budapest-Komplex die Antifas „Gino“ in Paris und Thomas J. ([1][Szenename
       „Nanuk“]), in Berlin festgenommen worden.
       
       Die Auslieferung von Maja T. nach Ungarn Ende Juni [2][wurde vielfach als
       unrechtsstaatlich kritisiert]. Dort sitzt sie seither in Isolationshaft.
       Auch dass kürzlich die in Nürnberg in U-Haft sitzende [3][Hanna S. wegen
       „versuchten Mordes“ angeklagt] wurde, werten Unterstützer:innen als
       Versuch, mit überdrehten Anklagepunkten Druck auf die Untergetauchten
       auszuüben. Die hatten in der Vergangenheit erklärt, sich stellen zu wollen,
       wenn ihnen Verfahren in Deutschland zugesichert werden – worauf die
       Behörden bisher aber nicht eingegangen sind.Doch in Städten wie Leipzig und
       Jena, wo viele der Untergetauchten herkommen, sind längst nicht nur die
       Untergetauchten von dem Ermittlungsdruck betroffen.
       
       In Verfahren wie dem Budapest-Komplex ermittelt die Polizei [4][nach
       Paragraf 129 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung]. Dieser Vorwurf,
       für die Polizei leicht zu erheben, eröffnet Ermittler:innen quasi das
       gesamte Repertoire an Überwachungsmaßnahmen: Hausdurchsuchungen,
       Observationen, das Abhören von Telefonen, der Einsatz von Kameras,
       Peilsendern und verdeckten Ermittler:innen. In Strukturermittlungsverfahren
       werden soziale Netzwerke der radikalen Linken durchleuchtet, wobei sich die
       Polizei erst mal für jede:n interessiert, die:der mit Verdächtigten in
       Verbindung stehen.
       
       Die Wahrscheinlichkeit etwa, als unbeteiligte Person Betroffene:r einer
       Hausdurchsuchung zu werden, steigt in Städten wie Leipzig inzwischen
       offenbar schon durch das Wohnen in einem linksradikalen Milieu an. Zwar
       wird nicht offiziell erfasst, wie oft die Polizei Hausdurchsuchungen
       durchführt, schreibt das LKA Sachsen auf taz-Nachfrage. Eine der taz
       vorliegende Antifa-Recherche, die auf öffentlichen Quellen basiert, kommt
       jedoch alleine in Leipzig seit 2020 auf 82 Hausdurchsuchungen, die
       Antifakontexten zugerechnet werden können.
       
       Am 15. März 2023 etwa, als die Polizei bei Familie M. anrückt, werden in
       Leipzig und Jena 13 Wohnorte durchsucht. Bei Hausdurchsuchungen geht die
       Polizei unterschiedlich vor: Mal verhalten sich die Beamten höflich – mal
       fragwürdig. Ein Bewohner einer WG in Leipzig-Connewitz berichtet etwa der
       taz, das SEK habe [5][seine Wohnungstür aufgeschossen, sein Zimmer gestürmt
       und ihn 45 Minuten gefesselt] – was die Polizei in dieser Länge dementiert.
       Einem [6][Bericht der linken Rechtsschutzorganisation Rote Hilfe zufolge]
       wirft das SEK in den Flur einer Jenaer Wohnung eine Blendgranate. Nur
       gefasst wird niemand. Keine:r der Untergetauchten hält sich in den
       durchsuchten WGs und Elternhäusern auf.
       
       Laut der Rechtsanwältin Waltraut Verleih komme es immer wieder vor, dass
       Durchsuchungen im Nachgang als rechtswidrig erklärt werden: Etwa, weil
       Wohnungen gewaltsam geöffnet, Räume Dritter betreten oder zu viele private
       Dinge fotografiert werden. Betroffene müssten dafür aber auf eigene Kosten
       einen Anwalt engagieren, das Geld gebe es auch im Erfolgsfall nicht zurück.
       „Das Gesetz geht davon aus, dass es keine rechtswidrigen Hausdurchsuchungen
       gibt“, sagt Verleih. Ersetzt würde nur der materielle Schaden. „Dass Sie
       vielleicht Schlafstörungen haben, von ihren Nachbarn gemieden werden oder
       ihr Vermieter sie kündigt, hat da keine Relevanz“, so Verleih.
       
       In Leipzig hängt der gestiegene Ermittlungsdruck viel mit der Soko Linx
       zusammen, einer Sonderkommission für linksextreme Straftaten des LKA
       Sachsen, ins Leben gerufen im November 2019. Damals hatte sich der Kampf
       gegen die Gentrifizierung Leipzigs aufgeheizt, einige Baustellenfahrzeuge
       brannten, die Mitarbeiterin einer Immobilienfirma wurde zu Hause von
       Unbekannten attackiert. Wohl auch als Schützenhilfe für den Leipziger
       Oberbürgermeisterwahlkampf, in dem sich die CDU als Law-and-Order Kraft
       aufspielte, gründete Roland Wöller (CDU), damals Innenminister Sachsens,
       öffentlichkeitswirksam die Soko Linx. „Klarer politischer Populismus“, sagt
       die Linken-Politikerin Juliane Nagel heute dazu.
       
       Seither steht die Einheit unter Rechtfertigungsdruck – und zeigt sich
       ihrerseits hoch motiviert, Strukturen der organisierten Kriminalität in der
       linken Szene zu finden. Die Einheit ist in viele Verfahren involviert. Am
       Bekanntesten ist sie aber für ihre Konstruktion der Gruppe um Lina E., den
       Budapest-Komplex und für Ermittlungen gegen linke Ultras des Fußballclubs
       Chemie Leipzig. Immer ranken sich Skandale um die Einheit. So sind etwa
       [7][Ermittlungsdetails über Beschuldigte beim gesichert rechtsextremen
       Compact-Magazin aufgetaucht]. Der ehemalige Leiter der Soko Linx, Dirk
       Münster, wurde damals nicht müde, in Interviews eine linke Terrorgefahr zu
       beschwören. [8][Im Frühling 2023 erklärte Münster] etwa, seine Einheit habe
       noch eine Liste von etwa 150 Linksextremist:innen im Visier.
       
       In einem interkulturellen Zentrum in der Jenaer Altstadt erzählen Ronja und
       Piet M. weiter davon, wie ihre Hausdurchsuchung abgelaufen ist. Die beiden
       wirken im Gespräch locker, sie scheinen keinen großen Wert auf Formalitäten
       zu legen. Doch wenn Ronja M. von der Hausdurchsuchung spricht, spannt sich
       ihr ganzer Körper an. Noch immer klingt sie fassungslos.
       
       „Die haben mich nicht zu meiner Tochter gelassen“, sagt sie immer wieder.
       Nachdem die SEK-Beamten das Kinderzimmer stürmten, habe sie nur zu ihrem
       13-jährigen Sohn gedurft. Piet M. sei in der Küche festgesetzt worden, von
       der Familie isoliert. Ihre damals 16-jährige Tochter sei eine Stunde mit
       einem SEK-Beamten allein gewesen, erzählt Ronja M. Sie habe das Weinen
       ihrer Tochter im anderen Zimmer gehört. Doch der Einsatzleiter habe nur
       gehöhnt: „Jetzt kann sie mal zeigen, ob sie groß ist.“
       
       Die M.s erzählen, von Anfang an seien die Beamt:innen menschenverachtend
       aufgetreten. „Wir brauchen jetzt mal die Pässe von diesem Gedöns“, habe ein
       Beamter gesagt, „Wir dürfen hier alles“ ein anderer. Als Ronja M. einen
       Anwalt anruft, habe ihr ein Polizist das Handy abgenommen. Als sie zu ihrer
       Tochter wollte, habe der Einsatzleiter gesagt: „Wollen Sie das wirklich?
       Das wir Sie auf den Boden packen und so gewaltsam mit Ihnen sind, während
       ihre Kinder zuschauen?“. Ronja M. sagt: „Ich bin überzeugt, dass an uns ein
       Exempel statuiert werden sollte, damit unser Kind sich stellt.“
       
       ## Betroffene berichten von Panikzuständen
       
       In einer [9][kürzlich veröffentlichten Dokumentation des nichtkommerziellen
       Medienkollektivs Le-Je], das für diesen Text Teile seiner Recherche mit der
       taz geteilt hat, berichten zahlreiche Betroffene von Hausdurchsuchungen und
       daraus resultierenden Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
       Auch der taz berichten mehrere Betroffene von Schlafstörungen,
       Panikzuständen und Flashbacks. So auch Familie M. Insbesondere um ihre
       Kinder mache sie sich Sorgen, erzählt Ronja M. Ihr jüngster Sohn, damals
       acht Jahre alt, habe starke Anzeichen von Traumatisierung gezeigt. Er habe
       oft schlecht geschlafen, angefangen, sich in seinem Zimmer Höhlen zu bauen.
       Bald nach der Durchsuchung habe er sich plötzlich an nichts mehr erinnern
       können.
       
       Dafür sei der eigentlich sehr eigenständige Junge seinen Eltern ständig
       hinterhergelaufen, habe ihre Nähe gesucht. Die Schule habe gemeldet, dass
       seine Konzentration nachlasse, dass er jedes Mal, wenn er einen neuen Raum
       betritt, sich mit dem Rücken zur Wand setze. „Es ist besser geworden“, sagt
       Ronja M. Aber noch vor Kurzem, als sie in der Stadt auf dem Fahrrad an
       einem Streifenwagen vorbeifahren, habe der inzwischen 9-Jährige anhalten
       müssen, um Luft zu holen.
       
       Der Soziologe Philipp Knopp von der Bertha-von-Suttner-Universität in St.
       Pölten sagt, martialisches Auftreten könne Teil der Einsatztaktik der
       Polizei sein. Eine Wohnung sei für die Polizei ein unbekannter und damit
       potenziell unsicherer Raum. Gleichzeitig sei ein solches Auftreten auch
       eine „proaktive Legitimierung“, eine Botschaft: Die Durchsuchten sind so
       gefährlich, dass ein solches Auftreten nötig ist. „Die Polizei glaubt
       wirklich, dass es sich bei Antifas um gefährliche Kriminelle handelt,
       vergleichbar der organisierten Kriminalität – und setzt entsprechende
       Mittel ein“, sagt Knopp.
       
       „Es gibt Studien über Deutungsmuster in der Polizei, die zeigen, dass Linke
       oft als Störer und Rebellen gesehen werden“, so der Soziologe. Für Rechte
       gelte das nicht gleichermaßen. Pegida-Demonstrant:innen hätten in
       Sachsen beispielsweise lange als „normale Bürger:innen“ gegolten, die
       „nur ihre Meinung vertreten“. Das sei ein gesamtgesellschaftlich geteiltes
       Bild. „Rechte gelten oft – trotz allem – zumindest als ordentlich“, sagt
       Knopp. Diese Sichtweise trage dazu bei, dass linke Gewalt oft als
       gefährlicher wahrgenommen werde als rechte.
       
       Ein:e Aktivist:in aus diesem vermeintlich gefährlichen Milieu ist Samy
       A. In einem Café im Leipziger Stadtteil Connewitz erzählt A. von besseren
       Zeiten. A. ist bei Kappa Leipzig organisiert, einer antiautoritären
       kommunistischen Gruppe. Weil auch gegen A. Ermittlungsverfahren laufen,
       möchte A. weder bei echtem Namen genannt werden, noch das eigene Geschlecht
       in der Zeitung lesen. A. sagt, eine ganze Zeit lang habe in der Leipziger
       Szene „ein Gefühl der Überlegenheit“ geherrscht. Die Polizei habe nach
       Aktionen oft im Dunkeln getappt, sei damit gescheitert, linke Strukturen zu
       zerschlagen. Die Stimmung in Connewitz sei heiter gewesen.
       
       Heute sei das anders. „Die Leichtigkeit ist weg“, sagt A. Die Gründe dafür
       seien vielfältig: Die Pandemie, Vorfälle von sexueller Gewalt in der Szene.
       Doch eine wichtige Rolle spielten eben auch die vielen
       Ermittlungsverfahren. Es gebe ein „diffuses Gefühl der Angst“, alle bekämen
       mit, was passiert, auch wenn sie nicht direkt betroffen seien. Aktuell sei
       es in Connewitz zwar wieder ruhiger geworden, erzählt A., weil viele
       Verfahren in Gerichtsschleifen hängen – doch die Soko Linx habe klar
       signalisiert, nicht nachzulassen. Auch auf Demos trete die Polizei
       repressiver auf, lasse weniger durchgehen.
       
       Der größte Druck habe während des Antifa-Ost-Verfahrens um Lina E.
       bestanden, sagt A. „Da wurden teils Leute gemieden.“ Viele hätten Angst
       gehabt, plötzlich auf Basis von Kennverhältnissen in Akten und Ermittlungen
       aufgenommen zu werden. Menschen, die sich vorher grüßten und guten Kontakt
       hatten, taten plötzlich so, als würden sie sich nicht kennen. „Sich in
       Strukturermittlungsverfahren nicht zu isolieren, ist für jedes Umfeld eine
       enorme Belastungsprobe“, sagt A. Die letzten Jahre hätten viele
       Freundschaften belastet, auch kaputt gemacht.
       
       Doch die Szene habe keinen produktiven Umgang damit gefunden. Lediglich die
       üblichen verbalradikalen Reflexe habe es gegeben, eine „Mund abwischen,
       weitermachen“-Rhetorik. Dem Staat bloß keine Schwäche zeigen, sei die
       Mentalität gewesen. Im Mai letzten Jahres hat sich Kappa deshalb unter dem
       Titel „[10][Die Repression wirkt. Reden wir darüber]“ an die
       Szeneöffentlichkeit gewandt. Darin argumentiert die Gruppe, Gefühle der
       Schwäche zuzulassen. „Obwohl es schwerfällt – wir müssen uns einfach
       eingestehen, dass die Zermürbungstaktik der Polizei auch erfolgreich ist“,
       sagt A.
       
       „Die Repression lähmt uns. Leute ziehen sich aus dem Aktivismus zurück oder
       sind verunsichert. Unglaublich viele Ressourcen müssen für Soliarbeit
       aufgewendet werden, die dann für andere Kämpfe fehlen“, sagt A. Gibt es
       keine Strukturen zum Umgang mit den psychischen Folgen der Repression,
       bleibe die nötige Care-Arbeit zudem oft an Flintas hängen. Auch das könne
       Freundschaften und Strukturen weiter belasten.
       
       Auch die Linken-Politikerin Juliane Nagel sieht die Angst und
       Einschüchterung, die die Hausdurchsuchungen in den letzten Jahren ausgelöst
       haben. „Gleichzeitig gibt es aber auch einen großen
       Solidarisierungseffekt“, sagt sie. In den letzten Jahren habe sich auch ein
       bürgerrechtsaffines und erweitertes linksliberales Spektrum zunehmend gegen
       die Kriminalisierung von Antifaschismus gestellt. „Am Tag X nach dem Urteil
       gegen Lina E. sind etwa viele Leute über ihren Schatten gesprungen und
       haben ein solidarisches Zeichen für Antifaschismus gesetzt – obwohl sie
       Gewalt doof finden“, sagt Nagel.
       
       Und tatsächlich ist keineswegs ausgemacht, dass die Repression erfolgreich
       ist. Einerseits koste die öffentliche Stigmatisierung als „kriminell“ einer
       sozialen Bewegung oft Ressourcen, sagt Soziologe Knopp. Andererseits könne
       Repression eine Bewegung sogar stärken. „Wenn sich genügend Akteure
       solidarisch zeigen, zeigt Repression vor allem, wie stark die
       Unterdrückung, wie groß die Ungerechtigkeit ist“, sagt er. Derzeit trifft
       die wachsende Repression aber auf eine Schwächephase linker Bewegungen –
       nicht nur in Sachen Antifaschismus. So werden auch die
       Klimaaktivist:innen der Letzten Generation von Politiker:innen
       in die Nähe des Terrorismus gerückt, in Präventivhaft gesteckt und
       inzwischen in drei separaten Verfahren als kriminelle Vereinigung nach
       Paragraf 129 verfolgt.
       
       In einem Café in Berlin-Kreuzberg nippt eine Sprecherin dieser vermeintlich
       kriminellen Organisation, Carla Hinrichs, an einem frisch gepressten
       Orangensaft. Auch bei Hinrichs ist die Polizei bereits am frühen Morgen
       teils vermummt und mit gezogenen Waffen eingebrochen. Das Haus ihrer Eltern
       wurde ebenfalls bereits durchsucht. Und auch Hinrichs kämpft mit den
       Folgen, dem Gefühl des Ausgeliefertseins. „Am frühen Morgen muss nur der
       Hausmeister die Mülltonnen rausbringen – und ich sitze senkrecht im Bett“,
       sagt sie.
       
       ## 44 Durchsuchungen gegen Letzte Generation
       
       Laut dem RAZ e. V., einer der Letzten Generation nahestehenden
       Unterstützer:innen-Gruppe, hat es seit Dezember 2022 insgesamt 44
       Durchsuchungen im Kontext der Ermittlungen gegen die Letzte Generation
       gegeben. Demnach wurden Wohnungen auch mal nur wegen Besprayens eines
       Weihnachtsbaumes am Brandenburger Tor durchsucht. Auch weitere Dritte – ein
       Kontoverwaltungsservice, ein bei Fridays for Future engagierter
       Bühnentechniker sowie zwei Werbeagenturen – waren laut der Gruppe von
       Razzien betroffen.
       
       Die Letzte Generation eckt mit Straßen- und Flughafenblockaden an – bleibt
       aber immer betont gewaltfrei, die Aktivist:innen stehen mit Klarnamen
       und Gesicht zu dem, was sie tun. Hinrichs versteht deshalb nicht, warum es
       bei ihr überhaupt eine Hausdurchsuchung gab. Die Polizei müsse nicht
       herausfinden, wer die „Hintermänner“ der Letzten Generation sind. Die
       Organisationsstruktur sei auf der Webseite der Gruppe festgehalten.
       „Offensichtlich wollten sie Druck aufbauen, sie wollten mich und meine
       Beziehungen zu den Menschen um mich herum kaputt machen“, sagt die
       Aktivistin.
       
       Für den in der Klimakrise weitgehend untätig bleibenden Staat sei eine
       Bewegung des massenhaften zivilen Ungehorsams gefährlich, betont sie,
       insbesondere, wenn sich Aktivist:innen nicht von Strafen abschrecken
       ließen. Hinrichs glaubt deshalb, der Staat wolle die Gruppe durch
       Durchsuchungen „einschüchtern“.
       
       Sowohl Hinrichs als auch A. gehen nicht davon aus, dass die Repression
       nachlassen wird. A. sagt, die Zeit des vermeintlichen liberalen Umgangs des
       Staates mit Linken sei eine „Illusion“ gewesen. A. gehe davon aus, dass
       sich die gesellschaftlichen Krisen – Wirtschaft, Kriege, Klima, Migration –
       in den kommenden Jahren eher noch zuspitzen. „Der Staat muss in Krisen
       Handlungsfähigkeit beweisen“, sagt A. Weil aber innerhalb kapitalistischer
       Verhältnisse die Krisenursachen nicht bewältigt werden könnten, werde der
       Staat besessen davon, Härte zu zeigen – gegen Bürgergeldempfangende,
       Migrant:innen, Antifaschist:innen und eben Klimaaktivist:innen.
       
       Neben Öffentlichkeitsarbeit seien vor allem Supportsysteme wichtig, sagt
       Hinrichs. „Wenn meine Wohnung noch mal durchsucht wird, weiß ich, dass
       danach zwei meiner besten Freunde auf der Matte stehen werden, mich in den
       Arm nehmen, einen Sekt öffnen oder mir Wasser in die Badewanne einlassen,
       was immer ich gerade brauche.“ Solche Absprachen seien neben dem Netz von
       Anwält:innen und Psycholog:innen, das die Letzte Generation inzwischen
       aufgebaut habe, enorm wichtig.
       
       „Es braucht wieder ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass Linkssein
       bedeutet, mit Repression konfrontiert zu werden“, sagt A. – und zwar ein
       Stück weit unabhängig davon, für welche Aktionsformen man sich entscheide.
       Das sei hart, aber kein Grund, in Panik zu verfallen. „Denn ohne die Dinge
       zu beschönigen: Es ist möglich, mit Repression leben zu lernen“, sagt A.
       „Es ist ja genau wie in der Klimakrise“, lacht Hinrichs. Selbst wenn die
       Menschheit heute aufhöre, CO2 auszustoßen, die Klimakrise sei
       unvermeidlich. Genauso ließen sich die vielen bereits laufenden Verfahren
       gegen die Letzte Generation nicht mehr aufhalten. Ein bisschen gebe das
       einem ja auch Bestätigung. „Ich kämpfe ja gegen die Zerstörung, die vom
       Staat ausgeht“, sagt Hinrichs. „Wenn der sich wehrt, heißt das, dass ich
       irgendwas richtig mache.“
       
       22 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Solidemo-fuer-Antifaschisten/!6043880
   DIR [2] /Auslieferung-von-Antifaschistin/!6018089
   DIR [3] /Anklage-wegen-Budapest-Angriffen/!6041794
   DIR [4] /Soziologe-ueber-deutsches-PKK-Verbot/!5970077
   DIR [5] https://knack.news/5367
   DIR [6] https://rotehilfejena.noblogs.org/2023/03/16/erneute-repressionsangriffe-in-sachsen-und-thueringen-hausdurchsuchungen-gegen-antifaschistinnen/
   DIR [7] /Interna-im-Fall-Lina-E-durchgestochen/!5805155
   DIR [8] https://kontrapolis.info/10299/
   DIR [9] https://www.youtube.com/watch?v=ehjQSA4nqKU
   DIR [10] https://kappaleipzig.noblogs.org/post/2023/05/06/leipzig-die-repression-wirkt-reden-wir-darueber/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timm Kühn
       
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       In Jena demonstriert die Zivilgesellschaft gegen die Auslieferung von
       Antifas. Der Vater von Maja T. berichtet, wie es T. in ungarischer Haft
       geht.
       
   DIR Gesuchte Linksautonome über Verfolgung: „Die Strategie wird nicht aufgehen“
       
       2023 sollen Autonome bei einem Nazi-Marsch in Ungarn rechte Teilnehmer
       attackiert haben. Warum sie sich nicht stellen, sagt eine von ihnen im
       Gespräch.