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       # taz.de -- taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen: Weil sie weiblich sind
       
       > Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen getötet.
       > Doch die Gewalt beginnt schon viel früher.
       
   IMG Bild: Femizide sind nur der Gipfel der Gewalt gegen Frauen
       
       Am 4. November 2024, einem Montagabend, ersticht ein 33-jähriger Mann seine
       drei Jahre jüngere Ehefrau in deren Wohnung in Dortmund. Die drei
       gemeinsamen Kinder im Alter von 3, 4 und 6 Jahren sehen das mit an, sie
       rennen zu den Nachbarn, um die Polizei zu rufen. Retten können sie ihre
       Mutter nicht, sie stirbt im Krankenhaus. Der Täter flieht zunächst, wird
       aber noch in der Nacht festgenommen. Er soll schon früher gewalttätig
       gewesen sein, die Frau hatte sich von ihm getrennt. Dieser Fall, der durch
       die Presse geht, ist einer, der besonders erschüttert. Eine Ausnahme ist er
       nicht.
       
       Für Taten wie diese gibt es ein Wort und eine Statistik. „[1][Femizid]“
       heißt es, wenn eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist. Die
       Statistik sagt: [2][Fast jeden Tag] wird in Deutschland eine Frau oder ein
       Mädchen getötet. Wieviele dieser 360 Fälle eindeutige Femizide waren, ist
       unklar. 248 davon lassen sich laut Bundeskriminalamt (BKA) dem Bereich der
       Häuslichen Gewalt zuzuordnen.
       
       Bei Femiziden handelt es sich um die schwerwiegendsten Fälle von Gewalt
       gegen Frauen. Dabei beginnt Gewalt schon deutlich früher: wenn ein Mann das
       Handy seiner Ex-Freundin digital überwacht. Wenn ein Mädchen im Park von
       einem Fremden an die Brust gefasst wird. Wenn ein Mann seine Partnerin im
       Streit ins Gesicht schlägt oder sie mit einem Aschenbecher verprügelt.
       
       Wie viele Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt es in Deutschland jährlich
       gibt, wie oft also eine Frau Opfer einer Gewalttat wird, weil sie eine Frau
       ist, ein Mann, weil er ein Mann ist, oder eine trans Person, weil sie trans
       ist, lässt sich schwer sagen. Das liegt unter anderem daran, dass die
       Dunkelziffer immens ist.Das BKA wertet aber seit einigen Jahren detailliert
       die Fälle von häuslicher und Partnerschaftsgewalt aus. Das folgt einer
       Logik: Das Risiko für eine Frau, Gewalt zu erleben, ist im sozialen
       Nahbereich [3][besonders hoch].
       
       Die Zahlen dafür liefert die polizeiliche Kriminalstatistik: Rund 256.000
       Opfer von häuslicher Gewalt gab es im vergangenen Jahr, die allermeisten
       (70,5 Prozent) waren Frauen. Zur häuslichen Gewalt gehört auch
       Partnerschaftsgewalt, also Körperverletzung, Belästigung, Vergewaltigung,
       Nötigung durch den Partner oder Ex-Partner. Knapp 168.000 Fälle von
       Partnerschaftsgewalt gab es im Jahr 2023, das ist ein Anstieg um 6,5
       Prozent gegenüber dem Vorjahr.
       
       ## Jeden Tag passiert geschlechtsspezifische Gewalt
       
       Doch was bedeutet diese Zahlen konkret? Um welche Art von Gewalt geht es
       hier, wo kommt sie vor, wie wird sie bearbeitet, und was folgt aus ihr?
       
       Zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25.
       November setzt sich die wochentaz mit diesen Fragen auseinander. Wir haben
       uns dafür zwei Städte ausgesucht – Erfurt und Ludwigshafen. Sie entsprechen
       am ehesten dem, was man den deutschen Durchschnitt nennen könnte: Beide
       Städte sind durchschnittlich groß, liegen bei zentralen Indikatoren wie
       etwa dem Verhältnis von Männern und Frauen oder dem Altersschnitt im
       deutschen Mittelfeld.
       
       Bei anderen Faktoren wie dem Bruttoeinkommen oder dem Ausländeranteil
       liegen sie jenseits des Mittelfelds. In Erfurt leben deutlich weniger
       Menschen mit Migrationshintergrund als in Ludwigshafen, Erfurt hat eine
       niedrigere Arbeitslosenquote und ein niedrigeres Durchschnittseinkommen als
       Ludwigshafen. Erfurt liegt im Osten, Ludwigshafen im Westen.
       
       Was beide Städte mit [4][allen anderen deutschen Städten] gemeinsam haben:
       Hier passiert geschlechtsspezifische Gewalt. Jeden Tag.
       
       Eine Woche lang haben wir [5][alle Vorfälle von Gewalt gegen Frauen
       dokumentiert, die in den beiden Städten bekannt geworden sind]. Wir haben
       Informationen von Frauenhäusern, Beratungsstellen, Kliniken, der Polizei,
       der Hilfsorganisation Weißer Ring und dem Kinderschutzdienst gesammelt.
       Unsere Dokumentation beginnt am 4. November – jenem Montag, an dem in
       Dortmund die Mutter von drei Kindern erstochen wird. Sie endet am Sonntag,
       den 10. November.
       
       Die Fälle, die wir präsentieren, basieren auf den Meldungen der Frauen. Sie
       sind nicht polizeilich ausermittelt, es gab (noch) keine gerichtliche
       Aufarbeitung. Einige sind als Anzeige bei der Polizei eingegangen, in
       anderen war die Polizei in der Vergangenheit bereits aktiv. In einigen sind
       Gerichte involviert, bei anderen Fällen bestand noch nie Kontakt zu einer
       Strafverfolgungsbehörde.
       
       Aus Dunkelfeldstudien ist bekannt, dass nur zwischen 4 und 13 Prozent der
       Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt [6][die Taten anzeigen]. Selbst
       Anwältinnen raten nicht immer zur Anzeige.
       
       ## Ob das Gesetz eine Mehrheit erhält, ist offen
       
       Es lässt sich also nicht bei jedem der hier dokumentierten Fälle eindeutig
       sagen, ob sich die Tat genauso zugetragen hat, wie sie hier vermerkt ist.
       Auch ist nicht immer gesichert, dass das Tatmotiv tatsächlich
       Frauenverachtung war. Was sich aber zeigt: Gewalt gegen Frauen und Mädchen
       ist in Deutschland alltäglich.
       
       Wenn Frauen gar nicht mehr weiterwissen, können sie Zuflucht in
       Frauenhäusern suchen. Diese sind in Deutschland [7][unterfinanziert] und
       [8][überbelegt]. Dagegen wollte die Ampelregierung eigentlich vorgehen, das
       geplante Gewalthilfegesetz sollte die Finanzierung von Frauenhäusern
       absichern und Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung bei
       häuslicher Gewalt garantieren. Der Gesetzentwurf steht, nächste Woche soll
       er ins Kabinett eingebracht werden. Ob das Gesetz noch eine
       parlamentarische Mehrheit erhält, ist offen.
       
       Wie dringend es benötigt wird, zeigt unsere Dokumentation: Das Frauenhaus
       in Ludwigshafen muss am Montag eine 19-Jährige abweisen, die angibt, von
       ihrem Onkel vergewaltigt worden zu sein und zwangsverheiratet werden zu
       sollen. Das Frauenhaus in Erfurt ist am Ende der Woche voll ausgelastet und
       muss zwei Frauen, eine davon mit Kind, weitervermitteln.
       
       Nicht alle Informationen, die wir in der Woche gesammelt haben, können wir
       konkret machen. Wir nennen nicht das Alter der Kinder, die mit ihren
       Müttern ins Frauenhaus gehen. Bei einigen Beratungs- und Anlaufstellen
       nennen wir nicht den Namen der Institution oder den Wochentag, an dem es
       einen Vorfall gab. Das dient dem Schutz der Frauen, aber auch der
       Beratungsstellen.
       
       Die Woche, die wir [9][hier dokumentieren], endet mit einem weiteren Fall,
       der landesweit Schlagzeilen macht: Aus einem Hamburger Frauenhaus wird eine
       28 Jahre alte Türkin [10][mit ihren zwei Kindern abgeschoben]. Sie war vor
       ihrem gewalttätigen Ex-Mann geflüchtet. Abgeschoben wird sie nach
       Österreich, in eine Unterkunft, zu der auch ihr Ex-Mann Zutritt hat. Das
       Frauenhaus nennt die Abschiebung einen „[11][historischen Tabubruch]“.
       
       23 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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