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       # taz.de -- EU-Migrationspolitik: Die Menschen, die am Wagen hängen
       
       > Unsere Kolumnistin wird an der marokkanischen Mittelmeerküste mit den
       > Realitäten der EU-Grenzpolitik konfrontiert. Und fühlt sich überfordert.
       
   IMG Bild: Menschen, vermutlich Migranten, auf einer Anhöhe an der Tarajal-Grenze in der spanischen Enklave Ceuta, September 2024
       
       Drei Jungs hängen an unserem Wohnwagen. Zwei an der Kabine, einer zwischen
       den Rädern. Die Autos in der nordmarokkanischen Stadt Tanger hupen uns an.
       Wir wollen [1][nach Europa ausschiffen]. Die Flüchtenden, die sich hier
       unter Lkws hängen, betreiben ein aussichtsloses Unterfangen: Der Hafen
       Tanger Med ist aufgerüstet mit Stacheldraht, Spürhunden und
       Röntgenkontrollen.
       
       Die Jungs müssen runter, der eine unterm Wagen hängt lebensgefährlich, und
       ich bin auch nicht wild darauf, dass die anderen die Kabine aufbrechen. Wir
       halten an, verjagen sie, aber bis wir zurück in der Kabine und im
       schleppenden Verkehr sind, hängen sie längst wieder drauf. Einer der Jungs
       lacht über unsere kläglichen Versuche, [2][Frontex zu spielen]. Sein Lachen
       klingt höhnisch und leer, es erinnert mich an Straßenkinder, wie innerlich
       tot. Und ich bilde mir ein, er lache auch über unsere moralische
       Hilflosigkeit.
       
       Wer mit dem Lkw rund um Europa fährt, erlebt Grenzen. Ein perfides Regime
       europäischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dessen Anblick Flug- und
       Zugreisenden erspart bleibt. Und es ist unmöglich, keine eigene Rolle und
       Schuld dabei einzunehmen. Wer verzweifelte Menschen am Wagen hängen hat,
       muss sich dazu verhalten. Und wer nicht gerade großen Heldenmut und
       Naivität besitzt, dem tut der nächste Blick in den Spiegel weh.
       
       Wir begegnen auch der prügelnden Seite. Nahe der [3][kroatischen
       EU-Außengrenze] hetzt uns jemand nachts Wachen auf den Hals. Als wir die
       richtigen Pässe vorzeigen und niemanden dabei haben, entschuldigen sich die
       Polizisten unterwürfig. In Marokko nahe der Atlantikküste hämmern mitten in
       der Nacht Uniformierte an unsere Tür. Der Kommandeur erzählt später, sie
       würden hier Fluchtboote aufhalten. Es sind absurde Jekyll-und-Hyde-Beamte,
       vermeintlich nette Typen, die später Rücken mit Schlagstöcken traktieren.
       
       Und wir? Der Security-Mann eines Supermarktes hilft: Er jagt die Teenager
       ins Gebüsch und verschafft uns Vorsprung. Ein [4][Türsteher Europas].
       Vielleicht hätten wir den Kids zumindest ein Essen ausgeben sollen,
       irgendeine Geste des Miteinanders. Aber erst zum Essen einladen, dann wie
       Hunde verjagen, wenn sie den Wagen stürmen? Es kommt mir naiv und absurd
       vor. Vielleicht werden unsere Enkel irgendwann ratlos fragen, warum wir all
       das zugelassen haben. Ich werde [5][keine gute Antwort] haben.
       
       Wir brettern ohne Halt bis zum Hafen und haben eine schöne Fahrt übers
       Meer. Kürzlich dachte ich noch mal an den lachenden Jungen. Da schrieb mir
       ein marokkanischer Freund, ein Kumpel sei beim Fluchtversuch gestorben. Er
       hatte sich unter einen Lkw gehängt und fiel.
       
       24 Nov 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
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