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       # taz.de -- Perspektiven nach Trumps Triumph: Können wir jetzt einpacken?
       
       > Der Schock der US-Wahl ist gesellschaftspolitisch noch keineswegs
       > verarbeitet. Was wird sich Trumps disruptiver Politik entgegenhalten
       > lassen?
       
   IMG Bild: Gemeinsam gegen rechts zu sein reicht nicht: Demo in Berlin, Frühjahr 2024
       
       Es waren die frühen 70er-Jahre, als [1][der Philosoph Jürgen Habermas],
       damals längst berühmt, einem seiner Essays einmal keine griffige
       begriffliche Wendung zum Titel gab (wie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“
       zum Beispiel oder später „Die neue Unübersichtlichkeit“), sondern eine
       Frage. „Was heißt heute Krise?“
       
       Das war die Zeit, als das Scheitern dessen, was später 68er-Revolte heißen
       sollte, aufgearbeitet werden musste. Die revolutionären 68er-Kader hatten
       davon geträumt, dass in der Bundesrepublik Klassengegensätze einen Aufstand
       hervorrufen würden. Habermas musste ihnen nun erklären, dass diese Hoffnung
       in der auf Ausgleich bedachten Mittelstandsgesellschaft eh eine Illusion
       gewesen sei.
       
       Manches an den Antworten, die der Sozialphilosoph damals gab, mögen dated
       sein. Doch seine Frage bleibt aktuell. Und es bleibt auch der
       intellektuelle Move, der aus ihr folgt. Er besteht in einer Aufforderung zu
       einer Überprüfung der eigenen Begriffe, die man sich über die Gesellschaft
       und sein Handeln in ihr macht. Prüfe, ob du dich nicht von Illusionen
       täuschen und von veralteten Begriffen leiten lässt.
       
       Die Vermutung liegt nahe, dass so eine Selbstverständigung in der
       Niederlage derzeit für die emanzipative Linke wieder ansteht.
       
       Zu den Krisen, die einen sowieso schon umtreiben – „Kriege, Anschläge,
       Epidemien, Naturkatastrophen und Wahlerfolge, die einem die letzte Hoffnung
       austrieben“, wie es im aktuellen Roman „Das Fest“ von Lucy Fricke heißt,
       Klimawandel nicht zu vergessen – ist die Erschütterung durch [2][die
       Trump-Wahl] gekommen.
       
       ## Kein Bündnis der Minoritäten
       
       Die Erschütterung wurde größer, je mehr man über die Umstände erfuhr;
       [3][auch Latinos,] junge Frauen und Schwarze haben Trump gewählt. Damit
       wird aber eine Erzählung zumindest fragwürdig, an die man sich etwas
       hilflos geklammert hat: das Narrativ, dass sich, wenn es drauf ankommt,
       alle Ausgeschlossenen und Unterdrückten zusammentun werden, um die White
       Supremacy zu verhindern. Das haben sie keineswegs getan. Es gibt kein
       Bündnis der Minoritäten.
       
       Der Schock der Trump-Wahl ist inzwischen etwas eingekapselt, und das
       deutsche politische System hat sowieso längst auf Wahlkampf umgeschaltet
       inklusive der Begleitumstände von Ärmelhochkrempeln und Autosuggestion
       (Grüne) und Selbstverständigung über den richtigen Weg (SPD). Doch man ahnt
       längst: Gesellschaftlich und auch kulturell wird einen die Trump-Wahl noch
       auf Jahre begleiten, keineswegs nur in den direkten politischen
       Auswirkungen, sondern auch in den Selbstverständigungsdebatten.
       
       Festzuhalten ist: Es war kein Unfall, sondern wirklich eine Niederlage. Zu
       einer Krise kann sie einem werden durch den Verdacht, dass die USA
       Tendenzen vorwegnehmen, die auch in Deutschland ankommen werden –
       vielleicht nicht ganz so ausgeprägt wie drüben, aber wer weiß das schon?
       
       Jedenfalls ist der Februar dieses Jahres nun endgültig Geschichte. Wie gut
       hat man sich [4][auf diesen riesigen Demos gegen Ausgrenzung und die AfD
       gefühlt]! [5][Millionen Menschen gingen bundesweit auf die Straße.] Es
       fühlte sich nach einer gesellschaftlichen Bewegung an – ein Gefühl, das
       trog. Die Vermutung ist jetzt eher: „Gegen rechts“, wie es hieß, [6][kann
       man zwar mobilisieren]; doch dass daraus auch eine tragfähige politische
       Mehrheit entsteht, ist keineswegs ausgemacht. Es sieht jedenfalls aktuell
       nicht danach aus.
       
       ## Demokratie verteidigen reicht nicht
       
       In den Bereich der Illusionen gehört also offenbar, dass „Demokratie
       verteidigen“ allein ein schlagkräftiges politisches Konzept ist; es ist
       tatsächlich viel zu abstrakt und von oben herab. Und was ist mit der
       Vorstellung von der Koalition der Minoritäten, der Ausgeschlossenen und
       Wohlmeinenden? Als Erzählungen von der Multitude oder einem Mainstream der
       Minderheiten ist sie in vielen Hinterköpfen. (Kulturell hatte sie ihren
       Peak in Filmen wie „Matrix“ oder Berliner Fantasien rund ums Berghain oder
       das Tempelhofer Feld, letztlich Woodstock-Reminiszenzen.) Doch sollte man
       sie, wenigstens zurzeit, eher als Wunschfantasie denn als realistisches
       Szenario behandeln.
       
       Der Punkt ist: „Gegen rechts“ kann eben nicht die internen Widersprüche und
       Brüche innerhalb so einer angenommenen Koalition auf Dauer überdecken. Die
       erbitterten innerlinken Auseinandersetzungen um Nahost sind da nur der
       extremste Punkt. Lebensweltlich existieren viele weitere Brüche.
       
       Dass die Grünen die soziale Frage vergessen, wird im politischen System
       mantrahaft vorgetragen. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Auf
       der anderen steht, dass selbst so etwas Unschuldiges wie das Lastenfahrrad
       als Triggerpunkt für Ökohass herhalten kann. Aus Reihenhaus-Besitzer*innen,
       innerstädtischen Altbaubewohner*innen, Postmigranten, Omas gegen rechts (so
       toll die sind), Queers und Hipstern jeglicher Couleur wird eben kein
       gemeinsames Milieu.
       
       ## Sichtbarkeit und Anerkennung
       
       Ist diese Feststellung selbstverständlich? Vielleicht. In ihren
       Auswirkungen ist sie aber noch nicht überall angekommen. So gehen viele
       identitätspolitische Interventionen und minoritätspolitische Kämpfe um
       Sichtbarkeit und Anerkennung zumindest implizit immer noch davon aus, dass
       es so etwas wie ein stabiles, und zwar gutes gesellschaftliches Zentrum
       noch gibt, das Sichtbarkeit herstellen und Anerkennung verteilen kann.
       Dabei ist genau dieses Zentrum fraglich geworden.
       
       Vielleicht wäre es also an der Zeit, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln,
       dass man auch selbst nicht nur für seinen spezifischen Punkt, sondern auch
       für das Ganze verantwortlich ist. Nachdem die spezifischen Anliegen ja klar
       geworden sind, könnte jetzt der Punkt gekommen sein, das dialektische
       Pendel wieder zurückschwingen zu lassen, wieder etwas universalistischer zu
       werden und nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Was einerseits ein frommer
       Wunsch sein mag. Andererseits, gibt es wirklich Alternativen dazu?
       
       Um Missverständnisse auszuschließen: Identitätspolitische Interventionen
       und die MeToo-Bewegung haben diese Gesellschaft weniger rassistisch und
       weniger sexistisch, also bewohnbarer gemacht. Ihnen jetzt pauschal die
       Schuld an der Uneinigkeit der Linken zu geben und ihnen vorzuwerfen, sie
       würden sich gegen die „kleinen Leute“ wenden, wie man das jetzt viel liest,
       ist allzu rückwärtsgewandt (und geht vielleicht immer noch davon aus, dass
       die Arbeiter das Subjekt der Geschichte sind). Noch ihre
       sprachpolizeilichen Verstiegenheiten lassen sich verteidigen. Etwa mit
       einem Satz des [7][Schriftstellers Rainald Goetz:] „Es geht nur so, eine
       leisere Sprache versteht die Macht nicht.“
       
       Doch könnte die aktuelle Krise auch ein Anlass sein, eine nächste Phase
       einzuläuten. Wie hieß es bei den amerikanischen Gründungsvätern? No
       taxation without representation. Das lässt sich umdrehen: Wer gut
       repräsentiert sein möchte, sollte sich auch um das Repräsentierende
       kümmern. Schon aus Selbstschutz. Aus einem reinen Kampf der Eigeninteressen
       werden immer die Trumps und Musks dieser Welt mit ihrer schieren Macht
       triumphierend hervorgehen.
       
       ## Niederlage des Allgemeinen
       
       Die Trump-Wahl bedeutet eine Niederlage des Allgemeinen, die mit einer
       Rückkehr reaktionärer Identitätsvorstellungen der Abstammung – wie sie auch
       in Deutschland droht – wunderbar zusammenpasst. Trumps „disruptive Politik“
       – gegen die Institutionen, gegen das Allgemeine – wird auch in Deutschland
       schon als mögliche Freisetzung „enormer konzeptioneller Kreativität“
       gefeiert; offenbar eine Variation vom Theorem der schöpferischen Zerstörung
       im Kapitalismus. Und die Frage ist, ob es ausreicht, noch mehr
       Mobilisierung, noch mehr aktivistische Interventionen, noch mehr Empörung
       dagegenzusetzen. Wohl kaum.
       
       Was man etwa sehen könnte, ist, dass die sozialen Medien, und zwar schon
       [8][bevor Musk sich Twitter krallte,] untergründig mit diesem Disruptiven
       verknüpft gewesen sind, als Ermöglichung antiinstitutioneller Energie. Das
       spricht keineswegs gegen die sozialen Medien als Ganze; sie haben die
       Sprecherpositionen vervielfältigt, das war wichtig und ist sowieso
       unhintergehbar. Nur sollte man sich eben auch hier klarmachen, was man mit
       ihnen anfängt – was ja auch, nicht mehr auf X, aber auf anderen Kanälen,
       längst geschieht. Mit Bemühungen um lustiges Argumentieren, Ironien und
       Neuanknüpfungen von Gruppenbildungen.
       
       Jürgen Habermas hat damals den 68er-Kadern übrigens einen anderen Umgang
       mit ihrer gefühlten Niederlage empfohlen. Er riet dazu, die Krise der
       Gesellschaft als Legitimations- und Verständigungskrise zu begreifen, und
       traf damit einen Punkt.
       
       Die aufbegehrenden Studierenden wollten nicht so strebsam arbeiten und, wie
       man damals sagte, entfremdet leben wie ihre Eltern und setzten so die
       herrschenden gesellschaftlichen Normen unter Legitimationsdruck. Während
       manche 68er noch jahrelang ihre Wunden leckten, machte sich von da aus die
       Bundesrepublik auf, die Gesellschaft als Ganze zu reformieren und neue
       Subjektivitäten zu schaffen, die Stichworte waren Neue Innerlichkeit,
       Selbstverwirklichung (mit all ihren Ambivalenzen), dann Neue Soziale
       Bewegungen.
       
       Ist das ein Weg? Statt Wunden zu lecken, sich wieder auf die Suche begeben,
       diesmal nach neuen Sensibilitäten für ein vernünftiges Zusammenleben? Kann
       gut sein, dass nichts anderes übrigbleibt, wenn man nicht das Disruptive
       will.
       
       24 Nov 2024
       
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